FONDS professionell Deutschland, Ausgabe 1/2019

Foto: © Christoph Hemmerich D er bis zum letzten Platz gefüllte Saal in Mannheim war in zwei Lager geteilt: Eines applaudierte dem DIW- Präsidenten Marcel Fratzscher, das andere dem Ex-Bundesbanker und Autor Thilo Sarrazin. In der Diskussion zwischen den beiden ging es um die Frage, ob und wie sich die Zuwanderung nach Deutschland auf den Kapitalmarkt und damit auf Anleger auswirkt. Während der renommierte Wirtschaftsforscher Fratzscher glaubt, dass Deutschland ohne Migration heute schon wesentlich schlechter dastünde, vertritt Sarrazin die Ansicht, dass die mit der Einwanderung verbundenen Kos- ten die von den Migranten erbrachte Wirt- schaftsleistung mehr als aufwiegen. Wer recht behält, lässt sich erst in einigen Jahrzehnten mit Sicherheit sagen. Wesentliche politische Entscheidungen muss man trotzdem schon heute treffen. Und das fällt nicht nur wegen der Unsicherheit schwer, sondern auch, weil das Thema extrem emotional besetzt ist. Dass das so ist, liegt auch den Zahlen, mit denen man bei den Themen Demografie und Migration konfrontiert wird; sie erreichen rasch erschreckende Größenordnungen. Hans- Werner Sinn warnte schon vor mehr als fünf Jahren, dass man zum Ausgleich der acht Millionen Babyboomer, die ab 2020 in Rente gehen werden, mehr als 30 Millionen Zuwan- derer benötigen würde. Die Bertelsmann-Stif- tung schrieb: „Deutschland hat bis 2060 einen jährlichen Einwanderungsbedarf von mindestens 260.000 Menschen. Nur so lässt sich der demografisch bedingte Rückgang des Arbeitskräfteangebots auf ein für die Wirt- schaft verträgliches Maß begrenzen.“ Eine so große Zahl von Zuwanderern löst in der Bevölkerung bekanntlich Bedenken aus. Denn während die Szenarien bei der Entwicklung der Alterspyramide so gut wie feststehen, sind die realen Auswirkungen der Zuwanderung kaum einschätzbar. Während die einen sagen, dass es ohne Migration nicht gehen werde und man daher dafür sorgen müsse, dass die notwendige Integration statt- finde, halten Skeptiker dem entgegen, dass dies schon bei den bisher Eingewanderten nicht funktioniert habe. Aus der Sicht der Finanzberatung drängt sich hier auch die Frage auf, was das für den Kapitalmarkt bedeutet. Kann man einem Sparer, der heute noch 20 oder mehr Jahre Anlagehori- zont hat, ruhigen Gewissens deutsche Wertpapiere empfehlen? Sarrazin pro- jiziert aktuelle Trends und Daten in die Zukunft und befürchtet, dass das Pro- blem durch die Zuwanderung, wie sie derzeit stattfindet, eben nicht entschärft, sondern vergrößert wird. Weil zu we- nige ausreichend qualifizierte Einwan- derer ins Land kommen, werde nicht nur der Ausfall der in Rente gehenden Arbeitnehmer nicht neutralisiert, son- dern die Last für jene, die in das Sozial- system einzahlen, sogar noch größer. DIW-Chef Fratzscher warnt vor einer undifferenzierten Brutto-Netto-Be- trachtung. Er verweist auch darauf, dass vor allem aus Berufen, in denen Arbeitskräfte- mangel herrscht – etwa dem Pflegebereich – aufgrund des Lohnniveaus keine Nettobei- tragszahler zu erwarten seien. Nichtsdestotrotz wären diese Menschen für die Wirtschaft unverzichtbar, weil nur durch ihren Einsatz Höherqualifizierte die Zeit haben, ihren Tä- tigkeiten nachzugehen. Und Fratzscher hält Deutschlands Wirtschaft für ausreichend leis- tungsfähig, um die Herausforderungen bei der Integration Hunderttausender Zuwanderer zu meistern. Die rund 20 Milliarden Euro, die infolge der Migration pro Jahr unmittelbar entstehen, hält er für verkraftbar: „Wir hatten im letzten Jahr in Deutschland 60 Milliarden Euro an Überschüssen, nachdem diese Kosten bereits abgerechnet waren.“ Interessanterweise sahen die Diskutanten in der Migrationsthematik aus Anlegersicht kein Problem. Sarrazin meint, dass sich zwar für die Gesellschaft aufgrund der Integrations- probleme langfristig Herausforderungen erge- ben, die sie nicht bewältige, das müsse sich aber nicht auf deutsche Firmen auswirken. Der DIW-Chef betonte, Deutschland sei und bleibe ein attraktiver Investmentstandort – aber nur, wenn das Land seine Offenheit und Toleranz, die es in der Vergangenheit gezeigt habe, bewahrt. GERHARD FÜHRING | FP Deutschland benötigt Migration, und Deutschland leidet auch nicht an einem Mangel an Zuwanderung. Zrotzdem bleibt der Zuzug ein Reizthema. Das Jahrhundert thema In der von Sissi Hajtmanek moderierten Diskussion gaben Marcel Fratzscher (l.) und Thilo Sarrazin zumindest für Anleger Entwarnung: Mögliche Probleme infolge der Zuwanderung müssen sich auf deutsche Firmen nicht negativ auswirken. » Deutschland wird ein sehr attraktiver Standort bleiben, wenn – und das ist ein wichtiges Wenn – wir uns diese Offenheit und diese Toleranz bewahren, die wir in der Vergangenheit gezeigt haben. « Marcel Fratzscher, DIW Berlin 20 www.fondsprofessionell.de | 1/2019 rückblick I fonds professionell kongress 2019

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