FONDS professionell Deutschland, Ausgabe 1/2019

Ohne Norm Eine Reihe von Unternehmen wird die Norm nicht nutzen. Das ergab eine kleine Umfrage der Redaktion unter rund 20 Mak- lerpools, Banken, Vertrieben und Versicherern. Zur Begründung heißt es oft, man habe eine eigene Analysemethode, die viele Facetten der DIN schon enthalte oder sogar besser als die- se sei. „Transparente Mindestkriterien in der Beratung zu haben ist gut und wichtig – und bei MLP seit vielen Jahren eine Selbstver- ständlichkeit. Dabei gehen wir an vielen Stel- len schon heute über die DIN 77230 hinaus“, sagt Dirk Bohsem, Bereichsleiter Marktma- nagement bei MLP. „Für unsere Kunden se- hen wir aus diesen Gründen keinen hinrei- chenden Mehrwert durch eine formale Zerti- fizierung.“ Der Finanzvertrieb DVAG äußert sich ähnlich, ebenso die Frankfurter Volks- bank, die zu den größten Genossenschaftsban- ken zählt, Swiss Life, die Targobank und die Hamburger Sparkasse. Die genannten Anbie- ter arbeiten IT-gestützt – die nötige Software- umstellung könnte also zumindest eine Nebenrolle bei der Entscheidung gegen die Norm gespielt haben. Selbst wenn das Geschäftsmodell und die internen Abläufe gut zur Norm passen, gibt es einen weiteren Aspekt, den Berater bedenken sollten, bevor sie sich zum neuen Standard be- kennen: Die Nutzung der Norm wird wohl da- zu führen, dass sich Vermittler nicht mehr über die Kundenanalyse von Mitbewerbern abhe- ben können. Sie müssen sich über Produkte oder auch Preise und Konditionen differenzie- ren, was gerade für kleinere Makler schwierig wird. Unter anderem aus diesem Grund emp- fiehlt der Maklerpool Blau Direkt den Stan- dard nicht (siehe das Streitgespräch ab Seite 250). Auch die Maklergenossenschaft Vema spricht sich gegen das Regelwerk aus, aller- dings aus juristischen Gründen: Sie sieht in der Norm einen Verstoß gegen die Vorgaben aus Paragraf 61 Versicherungsvertragsgesetz. „Gerade die gesetzlich vorgeschriebene Erhe- bung der individuellen Wünsche und Bedürf- nisse erfolgt durch die Basis-Finanzanalyse nicht. Eine hierauf basierende Beratung steht meines Erachtens im Widerspruch zu den gesetzlichen Beratungsverpflichtungen“, so Vema-Vorstandschef Hermann Hübner. Pro Norm Auf der anderen Seite gibt es gute Argu- mente für die Norm. So ist das DIN-Siegel eine sehr gute Werbung und bürgt dafür, dass die Finanzlage eines Kunden anhand eines neutralen Standards und nicht von Vertriebs- interessen geleitet analysiert wird. Ferner wird ein Kunde komplett nach Versorgungslücken durchleuchtet, was für den Vermittler von Vorteil ist, da er Neugeschäft generieren kann. „Wir wissen von dem Feedback unserer Part- ner, dass die nach DIN beratenen Kunden besonders zufrieden sind: Das Storno sinkt nahezu auf null, und die Empfehlungsquote Andreas Adam, Ajco: „Die Nutzung der Norm kann eine massive Umstellung des Geschäftsmodells bedeuten.“ Rechtliches rund um die DIN-Norm 77230 Die Norm 77230 „Basisanalyse für Privathaushalte“ ist Neuland für die deutschen Finanzdienstleister. Daher wirft die Umsetzung viele juristische Fragen auf. Einige wurden schon in FONDS professionell 3/2018 (Seite 340) beant- wortet. In der Zwischenzeit tauchten aber neue Fragen auf, die die Redaktion unten erläutert. Für endgültige Antworten ist es in einigen Fällen noch zu früh. Vorausgesetzt, die Norm hat sich als Bran- chenstandard etabliert: Kann es sich für einen Vermittler in einem Schadensersatz- prozess nachteilig auswirken, wenn er die Norm nicht angewendet hat – selbst in dem Fall, dass er explizit erklärt, nicht gemäß Norm zu analysieren? Vornweg: Grundsätzlich gilt, dass die Norm kein Gesetz und damit nicht verpflichtend ist. Unstrittig ist ferner, dass ein Vermittler für eine Fehlanalyse haftet, wenn er sich zur Anwendung der Norm verpflichtet, es dann aber doch unterlässt oder dabei Fehler macht. Einige Branchenken- ner argumentieren jedoch, dass Vermittler, die die Norm gar nicht anwenden wollen, durch die faktische Existenz einer normierten Analyse in einem Schadensersatz- prozess wegen Fehlern bei der Befragung in die Defensive geraten werden. Nach dem Motto: Sie hätten sich ja an eine anerkannte Norm halten können – dann wäre der Fehler nicht passiert. „Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen“, meint Rechtsanwalt Oliver Korn von der Kanzlei GPC Law. „Normen haben einen Standard-Cha- rakter. Im Baurecht etwa geben sie sehr viel vor, sodass jemand, der sich nicht an sie hält, in einem Haftungsfall wegen Bauschäden faktisch immer die Beweislast gegen sich hat.“ Allerdings müsse die DIN 77230 tatsächlich flä- chendeckend und nicht nur vereinzelt genutzt werden. Der Jurist betont, dass auch die Bundesregierung die ganzheitliche Beratung unterstützt – und damit zu- mindest indirekt auch die Norm. Das berühmte Sachwalter-Urteil des Bundes- gerichtshofs von 1985 legt die Analysepflichten des Maklers sehr weit aus. Muss ein Versiche- rungsmakler auch im Fall einer anlassbezogenen Beratung ganzheitlich und damit nach DIN 77230 analysieren? „Das hängt vom Maklervertrag ab“, meint Korn. „Wenn ein uneingeschränktes, nicht spezifiziertes Mandat besteht, dann ist der Makler grundsätzlich verpflichtet, ganzheitlich und nach DIN zu beraten – wenn er sich zu Letzterem selbst verpflichtet.“ Man könne drei Situationen unterscheiden: • Sieht der Maklervertrag nur eine anlassbezogene Be- treuung vor, muss der Vermittler auch nur diese leisten. Möchte ein Kunde nur eine Hausratspolice, dann ist der Makler nicht verpflichtet, ganzheitlich sowie gemäß Norm zu analysieren. • Hat der Makler dagegen ein Vollmandat, muss er auch bei einer Hausratspolice zumindest prüfen, ob er eine ganzheitliche, normkonforme Analyse schuldet. • Sollte der Kunde in einem solchen Fall aber selbst nicht auf einer umfänglichen Betreuung bestehen, ist der Makler nicht verpflichtet, nach DIN zu analysieren. Das Fazit des Berliner Juristen Korn: „Wenn kein Makler- vertrag existiert, kann das im Streitfall zu einem Problem werden.“ Darf ein Berater mit der DIN-Norm werben, wenn er sie nicht vollständig anwendet? Hier gibt es zwei Lager unter den Juristen. Die eine Seite meint, eine Werbung mit der Einhaltung von DIN-Normen könne als Wettbewerbsverstoß geahndet werden, wenn dieses Versprechen nicht vollständig erfüllt wird. Die an- dere argumentiert, die Verwendung von Formulierungen wie „Auszugsweise Abbildung der DIN-Norm 77230“ in Verbindung mit einem entsprechenden Hinweis auf Ein- schränkungen sei möglich. „Legt der Berater seiner Ana- lyse mehrere Teile der Norm zugrunde, kann er in seiner Werbung hierauf hinweisen, wenn er bei den angespro- chenen Kundenkreisen den durch den Begriff DIN blick- fangartig entstehenden Eindruck vermeidet, die ganze DIN-Norm komme zur Anwendung“, meint Rechtsanwalt Boris Diem von der Kanzlei Gollhofer Weidlich Leser. Dies könne durch einen Hinweistext geschehen, der die Ein- schränkung näher erläutert. „Derartige richtigstellende Hinweise im Kleingedruckten, die leicht zu übersehen sind, genügen allein jedoch nicht, die durch die blickfang- mäßige Herausstellung begründete Irreführungsgefahr zu beseitigen“, so Diem in einem Fachartikel. 247 www.fondsprofessionell.de | 1/2019

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