FONDS professionell Deutschland, Ausgabe 1/2022
Die bereits verschollen geglaubte Inflation avanciert für Anleger zum wesentlichen Thema. Karsten Junius, Chefvolkswirt der Schweizer Privatbank J. Safra Sarasin, erklärt, was uns erwartet, und wirft einen Blick auf die längerfristige Zukunft der Zinsen. N ach jahrelangen Deflationssorgen ver- abschieden sich die Notenbanken nun vomNullzins: Wegen hoher Inflation und kräftigen Wirtschaftswachstums wer- den in den USA im Jahr 2022 sechs Zins- anhebungen erwartet. Die Europäische Zentralbank (EZB) steht ebenfalls unter Druck. Doch langfristig ist die Situation viel komplexer, erläutert Karsten Junius, Chefvolkswirt von J. Safra Sarasin. Herr Junius, der Angriff Russlands auf die Ukraine ist ein Schock für Europa. Wir ha- ben bisher den geflügelten Satz vor uns hergetragen, dass sich industrialisierte Länder in einer wirtschaftlich verzahnten Welt nicht bekriegen. Waren wir zu naiv? Karsten Junius: Wir haben es lange für selbstverständlich gehalten, dass internatio- nale Konflikte in Europa diplomatisch statt militärisch gelöst werden. Ein Trugschluss, den wir jetzt schmerzhaft realisieren. Das erklärt auch die Bereitschaft, grundlegende Politikwechsel durchzusetzen, etwa eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsaus- gaben in einigen Ländern. Es wird befürchtet, dass zehn Millionen Ukrainer flüchtenmüssen. Ist Europa in der Lage, die Situation zu bewältigen? Europa ist geschockt, aber auch so geeint wie schon lange nicht mehr. Deswegen glaube ich, dass wir auch eine große Flücht- lingswelle meistern können. Viele erken- nen in der aktuellen Bedrohung, welchen Wert Freiheit, Selbstbestimmung und Frieden haben. Für genau diese Werte steht die EU. Deren Anziehungskräfte sind nun deutlich stärker als die in den letzten Jah- ren zu beobachtenden Fliehkräfte. Richtig ist aber auch, dass die zu leistende Solida- rität zu gesellschaftlichen Spannungen füh- ren kann.Das sehen wir jetzt schon bei der Diskussion, wie mit gestiegenen Benzin- preisen umgegangen werden soll. Die Inflationssorgen werdenmit demKrieg noch größer. Manche befürchten zehnpro- zentige Preissteigerungen, wie man sie schon imBaltikumsieht. Ist das realistisch? Wie sehr sich gestiegene Öl- und Gaspreise auf die Verbraucherpreise auswirken, hängt vom Energiemix und der Energiepreisregu- lierung in den Ländern ab. Klar ist, dass der Krieg und die Sanktionen die Produktion und den Export vieler Güter erschweren. Je länger er andauert, desto stärker ist die In- flation. Bei manchen Rohstoffen, vor allem beim in der Ukraine angebauten Weizen, kann das dramatische Folgen haben. Ich sehe aber keine zweistelligen Inflations- raten in der Währungsunion. Wie müssen und wie werden sich die Notenbanken nun verhalten? Sowohl die amerikanische Notenbank Fed als auch die EZB haben klargestellt, dass sie von ihren Inflationszielen nicht abrücken und die Inflationserwartungen mit einer restriktiveren Geldpolitik begrenzen wer- den. Die Fed hat ihren Leitzins schon ein- mal erhöht und weitere Zinserhöhungen in Aussicht gestellt. Die EZB wird ihre Anleihenkäufe sukzessive reduzieren und dürfte ihren Leitzins unserer Prognose nach imDezember das erste Mal erhöhen. „Der Realzins bestimmt, ob Kurse angemessen sind“ » Ich sehe keine zwei- stelligen Inflationsraten in der Währungsunion. « Karsten Junius, J. Safra Sarasin FOTO: © GÜNTER MENZL 152 fondsprofessionell.de 1/2022 MARKT & STRATEGIE Karsten Junius | J. Safra Sarasin
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