FONDS professionell Deutschland, Ausgabe 2/2022
Vincent Mortier , seit Kurzem Anlagechef von Amundi , ist davon überzeugt, dass man hinter die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank durchaus ein Fragezeichen setzen kann, und begründet das im Gespräch auch durchaus schlüssig. T urbulenter hätten die Zeiten nicht sein können. Die russischen Truppen standen längst bereit, um ihren Angriffs- krieg gegen die Ukraine zu starten, als Vincent Mortier Mitte Februar von seiner Beförderung zumChief Investment Officer von Amundi erfuhr. Der Franzose, der be- reits seit 2015 in den Diensten von Europas größtem Asset Manager steht, blickt auf eine Laufbahn in der Finanzindustrie zu- rück, die schon Mitte der neunziger Jahre begann. Das Rüstzeug dafür erwarb er als Absolvent der ESCP Business School, einer der drei bedeutendsten Wirtschaftshoch- schulen Frankreichs. Wir haben ihn nach seinen Erwartungen in Bezug auf Konjunk- tur, Inflation und Zinsen befragt. Herr Mortier, viel Zeit hat man Ihnen ja nicht gelassen, um Ihre Ernennung zum Chief Investment Officer von Amundi zu feiern. Vincent Mortier: Das ist richtig, denn nur eine Woche nach meinem Antritt in neuer Rolle haben wir uns angesichts der immer bedrohlicher werdenden Situation im Zusammenhang mit dem Aufmarsch rus- sischer Truppen an den Grenzen zur Ukrai- ne zu ersten Sicherungsmaßnahmen ent- schlossen. Wir haben unsere gesamten Rubel-Bestände verkauft und zusätzliche Absicherungen eingezogen. Dann folgte eine schier nicht enden wollende Reihe von Gesprächen und Telefonaten mit Kun- den, Vertriebspartnern und unseren Invest- mentkomitees, und nur eine Woche später brach der Krieg aus. Eine turbulente Zeit voller Dramatik … … die sich inzwischen trotz des nach wie vor unvorstellbaren Leids der Menschen vor Ort aber doch etwas gelegt hat, oder? Ich gebe Ihnen in gewisser Weise recht, auch wenn wir bis heute nicht abschlie- ßend beurteilen können, wie die Situation sich weiter entwickeln wird. Ich glaube so- gar, dass wir Gefahr laufen, die insbesonde- re für Europa wirklich tiefgreifenden geo- politischen Konsequenzen, die sich aus den kriegerischen Auseinandersetzungen noch ergeben werden, zu unterschätzen. Es wird meiner Erwartung nach eine Welt vor dem Krieg und eine Welt nach dem Krieg geben. Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Wir werden zurückkehren zu einer multipleren Welt mit zum Teil tief- greifenden Konflikten, die wahrscheinlich noch geraume Zeit andauern werden. Und am Ende wird es nicht nur der große Weckruf für Europa sein, der zeigt, wie abhängig unsere Region von Energie und Verteidigung eigentlich gewesen ist. Durch den Krieg wird eine sehr viel weiter reichen- de Entwicklung beschleunigt, die bereits vor dem russischen Einmarsch begonnen hatte, Stichwort Deglobalisierung. Aber sind wir sozusagen über den Berg oder noch mitten im Auge des Sturms? Was das Kriegsgeschehen selbst betrifft, ist das noch extrem schwierig zu beurteilen. Selbst wenn es zu einem Waffenstillstand kommen sollte, ist es noch ein enorm wei- ter Weg bis zu einem Friedensabkommen. Das würde noch viele Monate dauern. Und selbst dann wird es noch sehr lange Zeit brauchen, um zu einer gewissen Nor- „Im Grunde verfolgt die EZB eine politische Agenda “ » Durch den Krieg wird eine sehr viel weiter reichende Entwicklung beschleunigt, Stichwort Deglobalisierung. « Vincent Mortier, Amundi 170 fondsprofessionell.de 2/2022 MARKT & STRATEGIE Vincent Mortier | Amundi
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