FONDS professionell Deutschland, Ausgabe 2/2022
Aber gilt das nicht auch für die USA? Ich gebe Ihnen recht, nicht umsonst hat Joe Biden mehrfach deutlich gemacht, dass der enorme Preisanstieg auch dort ein po- litisches Thema geworden ist. Allerdings haben wir es mit anderen Voraussetzungen zu tun. In den USA herrscht Vollbeschäf- tigung, daher ist es bisher noch nicht zu größeren Spannungen gekommen. Für die Stabilität in Europa aber wird es zuneh- mend wichtiger, dass entweder die Infla- tion zurückgeht oder die Löhne steigen, am besten wäre eine Kombination aus beidem. Denn der Kaufkraftverlust wirkt nicht nur bei Geringverdienern wie eine Art zusätzliche Steuer. Auch Sparer und Rentner sind davon betroffen, weil sie mit nach wie vor nur gering verzinsten Anlei- hen kaum noch Erträge erzielen können. Wenn man so will, ist das im Grunde so etwas wie die Wurzel der Spaltung, die wir gerade bei der EZB in Bezug auf notwen- dige Maßnahmen beobachten. Wie meinen Sie das? Im Grunde sind wir damit wieder beim Thema Unabhängigkeit von Zentralban- ken. In der Praxis verfolgt die EZB drei sich widersprechende Prioritäten. Die Bekämp- fung der Inflation ist eine davon, aber nicht das oberste, sondern allenfalls das dritte Ziel. An zweiter Stelle kommt – das hat Christine Lagarde klar kommuniziert – die Verantwortung, die Spreads bei den Staats- anleihen der unterschiedlichen Euro-Mit- gliedsländer in Grenzen zu halten. Als ihre erste Priorität aber betrachtet die EZB es als ihre Aufgabe, die Eurozone insgesamt zusammenzuhalten. Ich erinnere nur an die berühmt gewordene Formel „Whatever it takes“ von Lagardes Vorgänger Mario Draghi, der sich auch die EZB-Präsidentin verpflichtet fühlt. Damit aber verfolgt die Notenbank im Grunde eine politische Agenda, was ein Fragezeichen hinter ihrer Unabhängigkeit durchaus rechtfertigt. Aber auch die EZB wird doch früher oder später die Zinsen anheben? Davon gehen jedenfalls die meisten Markt- teilnehmer aus, der Druck zu reagieren nimmt zumindest unaufhörlich zu. Aber ein solcher Schritt wird eher an zweiter Stelle erfolgen. Das haben die Währungs- hüter signalisiert, als sie deutlich gemacht haben, dass es zunächst zu einer Reduktion der Netto-Anleihenkäufe kommen wird. Nach dem, was man aus EZB-Kreisen hört, soll das schon im Juni der Fall sein. Und es wird kein wirklich gewaltiger Zinsschritt sein, den wir im Gefolge, wahrscheinlich bereits im Juli, sehen werden. Wir gehen zumindest davon aus, dass die EZB allen- falls den Einlagenzins von derzeit minus 0,5 Prozent auf null anheben wird. Was nichts anderes bedeutet, als dass die realen Zinsen in Europa weiterhin extrem negativ bleiben werden.Damit bleibt die Zinssitua- tion in Europa ein echtes Problem, das so schnell nicht verschwinden wird. Die US-Notenbank ist sehr viel entschlos- sener. Der erste Zinsschritt ist mit 50 Ba- sispunkten gemacht. Geht es so weiter? Auch wenn die jüngsten Zahlen eine gewis- se Abkühlung bei der US-Inflation gezeigt haben, wenn auch etwas geringer als vom Markt erwartet, lag die Teuerungsrate mit 8,3 Prozent immer noch viel zu hoch. Des- halb gehen wir davon aus, dass die Fed ihren Kurs mit einem weiteren Schritt in ähnlicher Größenordnung zunächst fortset- zen wird. Mit einem großen Fragezeichen zu versehen ist für mich die Prognose, wie es danach weitergehen wird. Es wird jeden- falls aufschlussreich sein zu beobachten, ob Jerome Powell und seine Leute zum einen ihr langfristig gesetztes Zinsziel weiter kon- sequent verfolgen und zum anderen ihre Bilanz wie geplant reduzieren werden – und zwar auch noch zu einem Zeitpunkt, da auch die US-Wirtschaft möglicherweise nicht mehr so gut dasteht oder der Markt sich bereits auf eine Rezession in den USA eingestellt hat. » Wir gehen davon aus, dass die EZB allenfalls den Einlagenzins von minus 0,5 Prozent auf null anheben wird. « Vincent Mortier, Amundi FOTO: © FRANÇOIS DABURON 172 fondsprofessionell.de 2/2022 MARKT & STRATEGIE Vincent Mortier | Amundi
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