FONDS professionell Deutschland, Ausgabe 2/2023

Weil es sich sozusagen in der Mitte zwi- schen zwei sich verhärtenden Fronten be- ndet. Gerade Europa ist auf die Aufrecht- erhaltung von guten Beziehungen sowohl zu den USA, aber eben auch zu China an- gewiesen. Aus sicherheitspolitischen Erwä- gungen wird sich Europa einerseits klar zu den USA bekennen, selbst wenn der In a- tion Reduction Act der USA sich für Euro- päer nachteilig auswirken wird. Anderer- seits bleibt Europa aus handelspolitischen Erwägungen auf die Aufrechterhaltung seiner Beziehungen zu China angewiesen, was aber für die andere Seite genauso gilt. Wie hoch ist die Gefahr, dass eine Eskala- tion des Konflikts zwischen China und Tai- wan eine vollkommen neue Einschätzung der Situation nötig machen wird? Das lässt sich nicht ausschließen, daher räu- men wir dem Risiko einer Eskalation zwi- schen beiden Ländern eine Wahrschein- lichkeit von immerhin 30 Prozent ein. Da- bei messen wir der Möglichkeit von isolier- ten Militäraktionen oder der Beschlagnah- mung von abgelegenen Inseln im taiwa- nesischen Hoheitsgebiet sowie Störungsver- suche durch See- oder Luftblockaden in diesem Szenario eine mehr als doppelt so hohe Gewichtung bei als einer handfesten militärischen Invasion. Wir gehen aller- dings von einer mit 65 Prozent wesentlich höheren Wahrscheinlichkeit davon aus, dass es zu einer Beibehaltung des Status quo kommen wird – mit entsprechenden Muskelspielen und Einschüchterungsver- suchen sowie weiteren Sanktionsmaßnah- men von Seiten Chinas. Eine Frage, die derzeit nicht nur Europa be- schäftigt, betrifft den Fortgang des Kriegs zwischen der Ukraine und Russland … …und deren Beantwortung unserer Auf- fassung nach anhand von Wahrscheinlich- keiten am schwierigsten ist. Mehr oder weniger feststehen dürfte allerdings, dass es bis zum Sommer zu keinen Fortschritten in Bezug auf die Möglichkeit von Friedens- gesprächen kommen wird. Eine Chance von jeweils 30 Prozent räumen wir einer- seits dem Erreichen eines Waffenstillstands im zweiten Halbjahr ein,was zumindest zu einem Einfrieren der kriegerischen Hand- lungen führen könnte. Genauso hoch gewichtet ist allerdings andererseits auch unsere Erwartung, dass dieser Krieg sich noch länger fortsetzen könnte. Aber auch eine weitere Eskalation inklusive einer direkten Einbeziehung des Westens wird doch nicht auszuschließen sein? Keineswegs, auch wenn die Wahrschein- lichkeit eines direkten Eingreifens des Wes- tens in diesen Krieg unserer Einschätzung nach mit 25 Prozent geringer ausfällt. Wo- bei das die Bedrohung durch den Einsatz von nuklearen Waffen mit einschließt. Gibt es auch Lichtblicke? Durchaus. Der Rückgang der noch zu Beginn des Jahres enorm hohen Energie- preise dürfte zu einer gewissen Entspan- nung führen. Speziell in Europa dürften sich die Verbesserung der Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien und eine Einigung in der Nordirland-Frage posi- tiv auswirken. Auch der Fortgang im seit Jahrzehnten auf Eis liegenden Freihandels- abkommen zwischen Europäischer Union und den Mercosur-Staaten dürfte ganz neue Möglichkeiten eröffnen.Darüber hin- aus könnten einzelne Staaten zu Pro teu- ren einer Neuordnung in der Welt werden. Aus jeweils unterschiedlichen Gründen gilt das zum Beispiel für Indien oder Mexiko. Deshalb liegt in dieser zunehmenden Neu- orientierung und einer stärkeren Diversi - zierung der Welt sicher auch eine Chance, die man als Investor nutzen sollte. Vielen Dank für das Gespräch. HANS HEUSER FP » Einzelne Staaten wie etwa Indien und Mexiko könnten zu Profiteuren einer Neuordnung in der Welt werden. « Anna Rosenberg, Amundi Institute KURZ-VITA: Anna Rosenberg Seit Oktober 2022 leitet Anna Rosenberg den Bereich Geo- politik am Amundi Institute in London. Davor hat sie fünf Jahre als Gastwissenschaftlerin am London Institute of Banking & Finance gelehrt. Zu ihren weiteren Stationen gehören Beratungsunternehmen wie die ebenfalls in London ansässige Signum Global Advisors und die in Washington beheimatete Gesellschaft Frontier View. FOTO: © TOM BIRTCHNELL MARKT & STRATEGIE Anna Rosenberg | Amundi 164 fondsprofessionell.de 2/2023

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