FONDS professionell Deutschland, Ausgabe 1/2024

Das ist richtig, es ist aber auch nicht so, dass wir nun für Deutschland gleich mit einer Wiederholung der „schlechten alten Zei- ten“ der 1970er-Jahre rechnen müssten, einem Jahrzehnt der wirtschaftlichen Ma- laise, das damals Privathaushalte und Unter- nehmen gleichermaßen getroffen hat. Dann halten Sie die Formel „kranker Mann Europas“ für übertrieben? Das würde ich schon sagen. Zumal man mit einer solchen Formel etwas in Stein meißelt, was im Grunde ja nur die Mo- mentaufnahme einer Situation ist, die sich mittel- bis langfristig durchaus wieder ver- bessern kann und wird. Im Übrigen kann ich mich sehr genau an die Zeit erinnern, in der wir diese Formel schon früher ein- mal benutzt haben. Das war um die Jahr- tausendwende und markierte pikanterwei- se den kurz darauf folgenden Wendepunkt. Das könnte auch diesmal wieder so sein, wenn wir es schaffen, unsere Wirtschaft ein Stück weit umzubauen und anzupassen. Was mich in dieser Beziehung zuversicht- lich stimmt: Ich glaube, dass auch die Poli- tik – bei aller Zerstrittenheit derzeit – in- zwischen verstanden hat, dass es dazu am Ende so etwas wie ein Wachstumschancen- gesetz mit entsprechenden Fördermaß- nahmen zur Stützung der eigenen Wirt- schaft braucht. Auf dem Weg dorthin werden aber doch auch Sie angesichts so schwacher Wachs- tumszahlen nicht ausschließen, dass es in Deutschland zu einer Rezession kommen kann, oder? Wenn wir uns darauf einigen, dass wir von einer sogenannten technischen Rezession sprechen, also einer Phase, in der die Wirt- schaftsentwicklung auch mal über zwei Quartale hintereinander unter der Null- linie liegen kann, dann lässt sich das natür- lich nicht ausschließen.Wichtiger erscheint mir allerdings die Frage, ob wir uns in einer länger anhaltenden rezessiven Phase befinden. Und in dieser Beziehung sehen wir längst nicht so schwarz, wie der pure Begriff Rezession das suggeriert, imGegen- teil. Auch wenn wir uns aktuell in einer ausgeprägten Schwächephase der Konjunk- tur befinden, ändert das nur wenig an unserer Erwartung hinsichtlich der Wachs- tumsaussichten für Europa und Deutsch- land über die gesamte Dekade hinweg. Hier gehen wir von positiven Wachstums- raten aus, die sich im Schnitt zwischen ein und zweit Prozent bewegen werden. Demnach scheint Ihnen die vielfach nach wie vor kursierende Angst vor einer dro- henden Deglobalisierung keine allzu gro- ßen Sorgen zu bereiten. Ein Ausdruck wie Deglobalisierung be- schreibt meiner Ansicht nach nicht wirk- lich das, was wir derzeit erleben. Ich würde es eher als ein Aufbrechen einer über weite Strecken als gegeben wahrgenommenen Ordnung der Weltwirtschaft bezeichnen. Konkret vor Augen geführt wurde uns das im Zusammenhang mit der Corona-Pan- demie, als es zu Engpässen bei bestimmten Vorprodukten für Antibiotika gekommen ist, die wir bis dahin zu 60 Prozent aus China importiert haben. Nach dem Aus- bruch des Kriegs in der Ukraine hat es die Automobilindustrie getroffen, als das Land » Ein Ausdruck wie Deglobalisierung beschreibt nicht wirklich das, was wir derzeit erleben. « Thomas Kruse, Amundi Deutschland FOTO: © CHRISTOPH HEMMERICH fondsprofessionell.de 1/2024 143

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