FONDS professionell Deutschland, Ausgabe 1/2024
Gefährliche Baustelle Viele Finanzvertriebe beschäftigen selbstständige Handelsvertreter. Was die Unternehmen gern ausblenden: Ist die Grenze zur Scheinselbstständigkeit überschritten, wird es schnell sehr teuer. W er in Deutschland zum Thema Finanzen beraten werden will, hat viele Optionen: Er kann beispielsweise zur Bank gehen, einen freien Makler konsul- tieren oder einen Vermögensverwalter auf- suchen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wendet er sich jedoch an einen Vermittler, der exklusiv für einen Finanzvertrieb oder Versicherer arbeitet. Die allermeisten dieser Finanzberater sind als selbstständige Han- delsvertreter tätig. Aber was heißt hier selbstständig? Branchenweit üblich sind Konstellatio- nen wie die folgende: Die Berater dürfen ausschließlich für „ihr“ Unternehmen, das sie auch im Außenauftritt repräsentieren, arbeiten und nur dessen Produkte ver- treiben. Die Gesellschaft stellt ihnen wie selbstverständlich alle wichtigen Arbeits- mittel zur Verfügung – von der Beratungs- software über die E-Mail-Adresse bis hin zu Werbebroschüren und Visitenkarten. Die Vermittler müssen verpflichtend an Schu- lungen zur Produktpalette, mitunter auch zu Karrierethemen teilnehmen. In Semina- ren wird ihnen eingebläut, wie sie ihre Kunden ansprechen und zu einer Unter- schrift überzeugen sollen. Einige bekom- men sogar Vorgaben, wie lang ihr Büro be- setzt zu sein hat. Ist das noch das, was man landläufig unter einer selbstständigen Tätig- keit versteht? Wenn Heinz-Dietrich Steinmeyer, bis 2017 Inhaber des Lehrstuhls für Sozialrecht und Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht an der Univer- sität Münster, von einer solchen Konstella- tion hört, kommt er recht schnell zu einem eindeutigen Schluss: „Das ist schon fast der Klassiker für die Annahme der Schein- selbstständigkeit“, meint der emeritierte Rechtsprofessor. Er ist sich recht sicher, dass ein Sozial- oder Arbeitsgericht in einem solchen Fall eine Arbeitnehmereigenschaft annehmen würde. Steinmeyer betont aber auch, dass es immer auf den konkreten Einzelfall ankommt. Würdigung aller Umstände „Nach der Rechtsprechung richtet sich die Einordnung eines Mitarbeiters als Angestellter oder als selbstständiger Han- delsvertreter regelmäßig nach der Gesamt- würdigung aller Umstände, insbesondere dem Gesamtbild der vertraglichen Gestal- tung und deren Handhabung in der Pra- xis“, sagt auch Jens Reichow, Partner der Hamburger Kanzlei Jöhnke & Reichow. „Eine starke Eingebundenheit in die Unter- nehmensstruktur des Vertriebsunterneh- mers kann dabei schon ein gewichtiges Kriterium zugunsten einer abhängigen Be- schäftigung und mithin für eine Angestell- tentätigkeit sein. Andererseits stellt sich auch die Frage, in welchem Umfang die fraglichen Mitarbeiter ein eigenes wirt- schaftliches Risiko tragen. Soweit ein sol- » Das ist schon fast der Klassiker für die Annahme der Schein- selbstständigkeit. « Heinz-Dietrich Steinmeyer, Universität Münster Am Bau ist Scheinselbstständigkeit ein Dauerbrenner – zu groß ist offenbar die Versuchung, sich die Sozialversicherungsbeiträge zu sparen. Doch auch für Finanzvertriebe mit Handelsvertretern ist das ein Thema. STEUER & RECHT Scheinselbstständigkeit 430 fondsprofessionell.de 1/2024 FOTO: © JT JEERAPHUN | STOCK.ADOBE.COM
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