FONDS professionell Deutschland, Ausgabe 1/2024

240 Prozent dieser Summe als Strafe zahlen. Für den nächsten Monat sind es dann „nur“ noch 239 Prozent und so weiter. „In solchen Fällen sitzt neben der Geschäftsführung des Unternehmens und uns als Anwalt häufig noch ein Insolvenz- experte am Tisch“, mahnt Lachmann. Fahrlässig oder vorsätzlich? Dass gleich für 20 Jahre Beiträge und Strafen fällig werden, ist allerdings nicht die Regel. Dafür ist „bedingter Vorsatz“ nötig, sprich der Arbeitgeber nahm die Schein- selbstständigkeit „billigend in Kauf“, wie Lachmann erläutert. Dann verjähren die Ansprüche der Sozialkassen erst nach 30 Jahren. Bei „bewusster Fahrlässigkeit“ be- trägt die Verjährungsfrist dagegen nur vier Jahre. „Bewusst fahrlässig“meint in diesem Zusammenhang, dass der Arbeitgeber darauf vertraut, dass schon alles gut gehen wird. „Die Abgrenzung zwischen bewuss- ter Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz gelingt nicht trennscharf, sondern unter- liegt ein Stück weit der subjektiven Ein- schätzung durch die Richter“, so Lach- mann. „Die daraus folgenden Konsequen- zen sind jedoch gravierend.“ Im Ergebnis kann an dieser Entscheidung das Fortbeste- hen des gesamten Unternehmens hängen. Bleibt die Frage, ob es sich bei einem vielleicht nur auf dem Papier selbstständi- gen Handelsvertreter eines Finanzvertriebs um einen Arbeitnehmer handeln könnte. „Entscheidend sind immer, wie es so schön heißt, die ‚Gesamtumstände des Einzel- falls‘“, sagt Lachmann. Die Bestimmungen des Handelsvertretervertrags seien zwar relevant, wichtiger sei aber, wie die „höchst- persönliche Leistungserbringung“ in der Praxis erfolge. „Eine pauschale Aussage für alle Handelsvertreter eines Vertriebs lässt sich daher nicht treffen, obwohl ein rechts- kräftig entschiedener Fall natürlich auf ähnliche Konstellationen abstrahlen kann.“ Einen festen Kriterienkatalog, den die Arbeits- oder Sozialgerichte in solchen Fäl- len abarbeiten, gibt es nicht, wohl aber Punkte, die in aller Regel eine Rolle spie- len. Nach Paragraf 84 Handelsgesetzbuch (HGB) ist Handelsvertreter, „wer als selb- ständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für einen anderen Unternehmer Geschäfte zu vermitteln oder in dessen Namen abzuschließen“. Weiter heißt es dort: „Selbständig ist, wer imWesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann.“ Entspre- chend versuchen die Gerichte zu klären, ob der Beschäftigte fachlich und inhaltlich weisungsgebunden ist und Vorgaben be- kommt, wann und wo er zu arbeiten hat. Erörtert wird auch, ob er ein unterneh- merisches Risiko trägt, also etwa eigenes Kapital eingebracht hat. Kooperation mit Angestellten „Eine wichtige Rolle spielt zudem die Eingliederung in den Betrieb“, sagt Lach- mann. „Arbeitet der Handelsvertreter regel- mäßig mit fest angestellten Mitarbeitern zusammen, nutzt betriebliche Arbeitsmittel wie E-Mail oder firmeneigene Software und tritt nach außen hin als Mitarbeiter des Unternehmens auf, können das schon deutliche Hinweise auf eine Arbeitnehmer- eigenschaft sein.“ Diese Beschreibung trifft wohl auf gleich mehrere deutsche Finanz- vertriebe zu. K.-o.-Kriterien sind es aber nicht. „Ein Finanzunternehmen könnte beispielsweise argumentieren, dass die regu- latorisch geforderten Standards nicht ein- gehalten werden könnten, wenn jeder Vermittler mit seiner eigenen IT arbeiten würde“, gibt der Jurist ein Beispiel. Und eine firmeneigene Mail-Adresse könne schon deshalb geboten sein, weil es in die- sem Geschäft auf Seriosität ankommt.Wer würde schon einen Versicherungsvertrag bei einem Vertreter abschließen, der mit seiner Web.de-Adresse kommuniziert? Eng wird es für ein Unternehmen in jedem Fall, wenn es fest angestellte Kolle- gen gibt, die im Wesentlichen die gleiche Arbeit verrichten wie ein auf dem Papier selbstständiger Mitarbeiter. „Es wäre schwierig, aus einer solchen Nummer her- auszukommen“, meint Lachmann. Gruppenfeststellung Und was kann ein Unternehmen tun, um sicher zu sein, keine Scheinselbstständi- gen zu beschäftigen? Eben weil es keinen festgelegten Kriterienkatalog gibt, kann selbst ein versierter Jurist keine Verträge ausarbeiten, die absolute Sicherheit verspre- chen. „Wer Rechtssicherheit möchte, müss- te im Zuge eines Statusfeststellungsverfah- rens bei der Deutschen Rentenversiche- rung eine sogenannte Gruppenfeststellung beantragen, die dann für alle Beschäftigten mit vergleichbaren Aufgaben gilt“, sagt Lachmann. Ein solches Verfahren birgt für das Unternehmen freilich das Risiko, dass die Prüfung durch die DRV völlig anders ausfällt als erhofft – mit womöglich drama- tischen finanziellen Folgen. BERND MIKOSCH FP » Eine abschlussorien- tierte Vergütung wäre sicherlich ein Argument zugunsten einer selbst- ständigen Tätigkeit. « Jens Reichow, Kanzlei Jöhnke & Reichow STEUER & RECHT Scheinselbstständigkeit 432 fondsprofessionell.de 1/2024 FOTO: © JÖHNKE & REICHOW RECHTSANWÄLTE, KAI BEHRENS (PRIVAT)

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