Der Mai ist gekommen, die Kurse sacken ab – so müsste der Text eines bekannten Volksliedes aus Börsensicht wohl abgeändert werden. Denn regelmäßig, wenn die Temperaturen frühlingshafter werden, befällt die Aktienmärkte eine merkwürdige Schwermut – und das weltweit.

Getreu dem griffigen Slogan "Sell in May and go away" (zu deutsch in etwa: "Verkauf' im Mai und bleib' dabei") alle Aktienbestände aus Furcht vor horrenden Verlusten abzustoßen, wäre dennoch keine kluge Strategie. Von einer drastischen Korrektur im Sommer, die durch die "Sell in May-"Regel vermieden werden könnte, kann keine Rede sein. Wenn überhaupt, darf der Spruch als Aufforderung zum Nichtstun verstanden werden – was statistisch gesehen ohnehin die vermögensschonendste Variante ist.

Wer dennoch auf Saisonmuster schwört, sollte das Börsenjahr und damit die eigenen Handelsaktivitäten in zwei Hälften aufteilen. Denn zahlreiche Anteilsmärkte rund um den Globus legen tatsächlich ein statistisch auffälliges Performancemuster an den Tag, wie eine Studie des auf sogenannte Saisoneffekte spezialisierten Researchhauses Seasonax belegt. Sommerflauten, in denen die Kurse eher auf der Stelle treten, die aber von umso einträglicheren Phasen im Herbst und Winter abgelöst werden, sind in der langen Frist an vielen globalen Leitbörsen anzutreffen – und verleihen dem häufig unbeachteten zweiten Teil der "Kalenderregel" besonderen Charme, der da lautet: "…but remember to come back in September."

Kaldendereffekt als globales Phänomen
Seasonax-Fachmann Dimitri Speck hat die Leitindizes der elf größten Weltbörsen mit Daten ab 1970 einer Untersuchung unterzogen. Sein Vergleich trennt das Kalenderjahr in eine Sommerphase von Mai bis Oktober, in denen ein fiktiver Investor annahmegemäß die Füße stillhält, und in ein Winterhalbjahr von November bis April, in der Anleger voll investiert sind. Das Resultat der Seasonax-Übung verblüfft: In allen elf Ländern verlief das Winter- besser als das Sommerhalbjahr.

In der Mehrzahl der untersuchten Länder – darunter Kanada, Frankreich, Deutschland, Japan, Taiwan und Großbritannien – hätte man während des Sommerhalbjahres im Mittel tatsächlich Verluste erlitten, wenn meistens auch nur leichte. Nur in zwei Fällen – in Hongkong und Indien – war auch während des Sommers für Anleger Rendite zu machen. Im Schnitt hätte ein streng nach Kalender vorgehender Anleger laut den Seasonax-Daten in der Phase von November bis April mit einem durchschnittlichen globalen Aktienportfolio eine Plusperformance von 8,37 Prozent eingestrichen.

Doch auch die eher entbehrungsreiche Zeit von Mai bis Oktober riss mit einer Performance von mageren 0,04 Prozent keine wirklichen Löcher ins Depot. "Sell in May" ist also wenig ratsam  – erst recht unter Einrechnung von Handelsgebühren für den frühen Aus- und späteren Wiedereinstieg im Herbst, die bei durchschnittlich zwei Prozent des eingesetzten Kapitals pro Jahr liegen. Hinzu kommt: Einzelne Indizes wie der Dax tanzen, bei kürzeren Fristen, gerne mal aus der Reihe: So hat die Fondsgesellschaft Fidelity für das deutsche Leitbarometer ausgerechnet, dass er in den vergangenen 30 Jahren 13-mal zwischen Ende April und Ende August gestiegen, aber nur 17-mal gefallen ist.

Andere Studien bestätigen Zweiteilung
Dem Phänomen der Börsensaisonalität widmet sich auch Robert Rethfeld von Wellenreiter-Invest. Von Ende Oktober bis Anfang November sollten Anleger seiner Überzeugung nach besonders alert sein. Dann erreicht der globale Aktienmarkt-Taktgeber – der Dow-Jones-Index – sein ideales Einstiegsfenster. 

Auch Rethfeld teilt das Börsenjahr in zwei Hälften ein: eine Winterperiode von November bis April und eine Sommerperiode von Mai bis Oktober. Rethfelds Rückrechnung für den US-Leitindex zeigt zwar, dass es auch in der eigentlich lohnenswerten Wintersaison hie und da Einbrüche beim US-Leitbarometer gegeben hat. Im Sommer aber stürzten die Märkte in vergangenen Jahren dagegen sowohl häufiger als auch tiefer ab – insbesondere während der Terrorattacken vom 11. September 2001 und in den Tagen um den Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers. 

Von Panikmache wegen des "Mai-Effekts" hält Maximilian Kunkel, Chefanlagestratege Deutschland bei UBS Global Wealth Management, ebenfalls nichts. Auch er stellt anhand von Langfristdaten fest, dass Aktienmarktrenditen während der Sommermonate tatsächlich niedriger waren – aber immer noch positiv. Seit 1928 lag die annualisierte Rendite des S&P 500 zwischen Mai und August bei 2,3 Prozent. "Das mag sich nach wenig anhören, macht aber langfristig für Anleger eine große Differenz“, erklärt Kunkel.

Ein Anleger, der im Jahr 1928 exakt 100 US-Dollar in den S&P 500 investiert und aus strenger Kalendergläubigkeit heraus eine "Sell in May“ Strategie verfolgt hätte (also jedes Jahr aus Aktien in dreimonatige US-Staatsanleihen von Mai bis August umgeschichtet hätte), würde heute über 5.800 US-Dollar verfügen. Wäre er jedoch durchgehend im S&P 500 investiert geblieben, wäre die Anlage heute 16.000 US-Dollar, also beinahe dreimal so viel, wert.

Timing sehr schwierig
"Natürlich kann es in einzelnen Jahren zu deutlichen Abweichungen vom Muster kommen, was die Rendite schmälern oder erhöhen könnte. Aber langfristig dürfte es sich kaum lohnen, auf diese saisonale Schwäche zu spekulieren“, sagt Kunkel. Viel sinnvoller sei es eine überzeugende Strategie zu verfolgen, die auf langfristige Megatrends, Diversifikation und Risikoüberwachung setzt,  (aa/ps)