Der Gründer der französischen Fondsgesellschaft Carmignac, Edouard Carmignac, spricht sich in einem offenen Brief für die Wahl des früheren Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, an die Spitze der EU-Kommission aus. "Draghi verhinderte im Juli 2012 durch sein inzwischen historisches 'Whatever it takes' den Zusammenbruch der Eurozone", begründet Carmignac seine Empfehlung. "Wir benötigen unbedingt eine Person an der Spitze der Europäischen Kommission, deren intellektuelle Autorität und Verhandlungsgeschick außer Frage stehen."

Das scheint der Investmentveteran der bisherigen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen augenscheinlich nicht zuzutrauen. Nach dem Ausgang der Europawahl schien zunächst eine zweite Amtszeit der zu den Konservativen zählenden von der Leyen gesetzt. Gänzlich sicher ist die Wiederwahl aber noch nicht. In Ländern wie Deutschland oder Frankreich hatten zudem rechtspopulistische Parteien Wählerstimmen hinzugewonnen.

"Dies ist Betrug am Wähler"
Angesichts des Wahlausgangs verknüpft Carmignac seine Empfehlung mit einem flammenden Plädoyer für ein geeintes und stärkeres Europa. "Wieder einmal haben wir erlebt, dass der eigentliche Sinn der Europawahlen aktiv untergraben wird", erläutert der Anlage-Profi. "Anstelle der echten Herausforderungen standen innenpolitische Themen im Vordergrund." Noch schlimmer sei aber, dass im Namen der nationalen Souveränität Ängste unter einer alternden Bevölkerung geschürt würden. "Dies ist Betrug am Wähler", stellt Carmignac fest.

"Angesichts der Herausforderungen, die sich uns stellen, kann auf längere Sicht nur ein noch engerer Zusammenschluss der souveränen Staaten, die im Weltmaßstab zu regionalen Akteuren geworden sind, unsere Freiheiten garantieren", zeigt sich der Investmentstratege überzeugt. So müsse die Verteidigungsfähigkeit verbessert werden. "Neben einer Aufstockung müssen unsere Verteidigungsbudgets auch koordiniert und stärker auf die modulare Ausrüstung und die europäische Produktion ausgerichtet werden", meint Carmignac.

"Selbstmörderische Strategie"
Er fordert zudem, dass die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents verbessert wird. "Wir benötigen eine Industriepolitik, die darauf abzielt, unseren wachsenden Rückstand bei Zukunftstechnologien wie künstlicher Intelligenz und Biotechnologie zu verringern", führt der Altmeister aus. "Wir setzen seit Jahren auf eine nahezu 'selbstmörderische Strategie', die gleichzeitig eine Senkung der Lohnkosten und eine Erhöhung der Kaufkraft durch Konjunkturprogramme ohne nachhaltige Wirkung anstrebt", erläutert Carmignac. Das Ergebnis sei ein schwacher privater Konsum und ein geschwächtes Sozialmodell.

Weiterhin kritisiert er Europas Umgang mit den Migrationsströmen. "Wenn diese Ströme nicht beherrscht werden, ist dies fatal für den sozialen Zusammenhalt in allen Ländern Europas", so Carmignac. "Nur eine strenge Immigrationspolitik, die von allen EU-Mitgliedstaaten praktiziert wird, kann hier Abhilfe schaffen." Gleichwohl müsse diese Politik mit Augenmaß umgesetzt werden, denn drei Viertel der europäischen Unternehmen würden über Schwierigkeiten bei der Suche nach Fachkräften klagen.

Umweltpolitik – aber richtig
Schließlich kritisiert Carmignac die bisherige Umweltpolitik. "Das Fiasko, zu dem unser umweltpolitischer Kurs geführt hat, ist traurig anzusehen", diagnostiziert der Firmengründer. "Unter dem Druck von umweltbewussten Politikern, die es gut meinen, aber ohne Verstand vorgehen, stammen die Lieferungen im Bereich der erneuerbaren Energien zu einem erheblichen Teil aus China." Würde man die Ziele im Bereich der E-Mobilität konsequent umsetzen, hätten Autos aus chinesischer Produktion bis 2030 einen Anteil von 60 Prozent, argumentiert Carmignac.

Darüber hinaus fehle es in Europa an Steueranreizen – ganz im Gegensatz zu den USA, deren "Inflation Reduction Act" europäische Unternehmen dazu veranlasst, eher im Ausland zu investieren. "Notwendig sind grüne Konjunkturprogramme vor Ort und Schutzmaßnahmen für unsere Industrie, indem Importe, die nicht unseren Umweltnormen genügen, mit Zöllen belegt werden", fordert Carmignac. Dies alles zu stemmen, traut Carmignac dem zeitweiligen italienischen Premierminister Draghi zu. "Mit inspirierenden Projekten zur Überwindung der oft vergangenheitsbedingten Differenzen zwischen unseren Nationalstaaten könnte er der europäischen Einigung neuen Schwung verleihen", lobt Carmignac. (ert)