Tagelang hielten Anleger den Atem an, in Erwartung von Janet Yellens Rede in Jackson Hole. Als es so weit war, stellte sich Ernüchterung ein. Die Fed-Chefin wurde mitnichten so deutlich wie gehofft. "Ein zweiter Blick auf die Referate der Tagung zeigt aber, dass Geldpolitik mehr beinhaltet als die Frage des nächsten Zinsschrittes", sagt Karsten Junius, Chefökonom der Bank J. Safra Sarasin. Die Reden zeigten den Zuhörern, wie stark die Geld- von der allgemeinen Wirtschaftspolitik abhängt.

EZB-Direktoriumsmitglied Benoît Cœuré machte es wahrscheinlich am klarsten: Die geldpolitischen Maßnahmen der Europäischen Zentralbank seien eine Reaktion auf die außergewöhnlichen Umstände gewesen. Sie seien als zeitlich begrenzte Schritte gedacht unter der Annahme, dass Politiker aktiv würden. Solange das nicht ausreichend der Fall sei, werde die EZB ihren Handlungsrahmen weiter ausschöpfen, um ihr Mandat zu erfüllen. Cœuré räumte ein, dass die negativen Zinsen durchaus unerwünschte Nebeneffekte haben können. Die Verantwortung dafür wies er aber anderen Politikbereichen zu.

Geldpolitik ersetzt keine Reformen
Tatsächlich kann die Geldpolitik das Potenzialwachstum nicht beeinflussen. "Sinkt dieses aufgrund von strukturellen und konjunkturellen Gründen, dann sind auch die neutralen Leitzinsen niedriger", erklärt Junius. "Richtig ist auch, dass die EZB über Jahre Strukturreformen angemahnt hat, die die Wirtschaftspolitik nachhaltiger und die Währungsunion stabiler gemacht hätten." Dazu hätten etwa Reformen im italienischen oder deutschen Bankensektor gehören können, nachhaltigere Rentensysteme, eine längere Wochenarbeitszeit in manchen Ländern, flexiblere Arbeitsmärkte oder offenere Dienstleistungssektoren.

Die Verantwortung dafür, dass Reformen ausgeblieben sind und das Potenzialwachstum im Euroraum immer weiter gesunken ist, liegt nicht bei der EZB, sondern bei der Wirtschaftspolitik. "Allerdings hätte die EZB andere Schlussfolgerungen daraus ziehen können, dass ihr Reformaufruf immer wieder ungehört geblieben ist", kritisiert der Ökonom. "Ihre Geldpolitik hätte dann vielleicht nicht blind darauf vertraut, dass andere Politikbereiche ihrer Verantwortung gerecht werden." Vielleicht wäre die Währungsunion heute stabiler, wenn die EZB sich mit manchen ihrer Maßnahmen etwas mehr Zeit gelassen und stärker signalisiert hätte, dass sie eine nachhaltige Wirtschaftspolitik ergänzen, aber nicht ersetzen kann. (fp)