Herr Hartmann, während der US-Aktienindex S&P 500 zuletzt ein neues Rekordhoch markierte, tut sich der Eurostoxx 50 schwerer. Entspricht das den unterschiedlichen Wirtschaftsperspektiven für die USA und den Euroraum?

Daniel Hartmann: Es ist weniger der Wachstumsvorsprung der USA als vielmehr eine neue Welle der KI- und Tech-Euphorie, welche die US-Börsen seit Jahresbeginn trägt. Einmal mehr sind es die Magnificent Seven – speziell Nvidia, Microsoft und Alphabet –, die in erster Linie vorauseilen. Außerdem gilt zu bedenken, dass im Eurostoxx 50 die größten Konzerne Europas versammelt sind, deren Gewinnperspektiven stärker von der Weltwirtschaft als vom Heimatmarkt abhängen. Mit anderen Worten: Der Eurostoxx 50 ist aktuell deutlich besser als die eigentliche Lage in der Eurozone. 

Was erwarten Sie für das Wirtschaftswachstum in den USA und im Euroraum in diesem Jahr?

Hartmann: Wir gehen in der Eurozone 2024 von Nullwachstum aus und rechnen in den USA mit knapp einem Prozent Wachstum. In beiden Fällen liegen wir unter dem Konsensus. Die Wirtschaft der Währungsunion dürfte sehr schwach – also im Rückwärtsgang – ins Jahr starten und sich im zweiten Halbjahr lediglich geringfügig erholen. In den USA sollte sich das Expansionstempo im Jahresverlauf deutlich abschwächen, da die massiven Stimuli der vergangenen Jahre von der Geld- und Fiskalpolitik immer mehr an Kraft verlieren. 

Wie dürfte sich speziell Deutschland wirtschaftlich behaupten?

Hartmann: Deutschland steckt tief in der Rezession und dürfte sich daraus im Jahresverlauf nur sehr mühsam befreien. Die Investitionstätigkeit ist rückläufig – nicht zuletzt wegen der gestiegenen Zinsen. Der Export lahmt, und der private Verbrauch sollte sich nur zögerlich beleben. Die Sparmaßnahmen der Bundesregierung kommen zur Unzeit. 

Die Inflation geht zurück. Wann und wie rasch werden die Fed und die EZB die Zinsen senken?

Hartmann: Die Notenbanken werden im zweiten Quartal 2024 mit Leitzinssenkungen beginnen. Wie stark es nach unten geht, hängt ganz entscheidend davon ab, was in den USA passiert. Wenn sich das US-Wachstum im Jahresverlauf deutlich abschwächt, wovon wir in unserem Basisszenario ausgehen, werden die Notenbanken die Geldpolitik stärker lockern als derzeit erwartet. Fed und EZB dürften die Leitzinsen dann in Richtung zwei Prozent senken. Wenn die US-Wirtschaft hingegen weiter brummt, werden die Zinssenkungen viel kleiner ausfallen. Dann dürfte es den Notenbanken bereits schwerfallen, die Leitzinsen auf vier Prozent (Fed) und drei Prozent (EZB) zurückzunehmen.

Werden die ersten Zinssenkungen für neue Fantasie an den globalen Aktienmärkten sorgen?

Hartmann: Es ist schon sehr viel Zinssenkungseuphorie an den Aktienmärkten eingepreist. Zusätzliche Fantasie dürfte nur dann aufkommen, wenn die Konjunkturdaten enttäuschen und sich ein scharfer globaler Abschwung abzeichnet. Letzteres würde aber gleichzeitig die Gewinnperspektiven der Unternehmen dämpfen und wäre somit schlecht für Aktien. Das ideale Szenario für die Aktienmärkte ist eine robuste Weltwirtschaft bei gleichzeitig fallenden Inflationsraten. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass bei einer boomenden Wirtschaft und einem heiß laufenden Arbeitsmarkt die Teuerungsraten immer weiter zurückgehen.  

Könnten auch die Segmente profitieren, die zuletzt schwach abschnitten, wie Small Caps und Schwellenländeraktien?

Hartmann: Die globale Aktienrally kann durchaus noch einige Wochen andauern. In diesem Zuge sollten auch die bisherigen Nachzügler wie Small Caps und EM-Aktien Aufwind erfahren. Mittelfristig bleiben wir jedoch skeptisch für die Aktienmärkte. Das Sentiment ist bereits sehr euphorisch. Es braucht daher nicht viel, um Enttäuschungen hervorzurufen. Außerdem dürfte, wie gesagt, der weltwirtschaftliche Rückenwind im Laufe des Jahres nachlassen. Mittelfristig ist daher eine defensive Positionierung an den Aktienmärkten angebracht.

Das allgemeine Euro-Renditeniveau längerer Anleihen ist knapp über zwei Prozent. Lohnt es sich auf diesem Niveau noch, in sichere Bundesanleihen einzusteigen?

Hartmann: Wenn unser Basisszenario einer weltwirtschaftlichen Abkühlung eintritt, werden die Notenbanken die Leitzinsen in diesem Jahr kräftig senken. Dann dürften die Renditen von Bundesanleihen im Jahresverlauf unter zwei Prozent fallen. Somit kann der Anleger neben dem Kuponertrag auch noch Kursgewinne verbuchen. Allerdings ist in den nächsten Wochen zunächst noch Vorsicht geboten. Erst wenn die US-Wirtschaft klare Schwächesignale zeigt, ist ein Einstieg bei Bundesanleihen angezeigt.

Was halten Sie von Euro-Unternehmensanleihen? Attraktive Mehrverzinsung oder zu riskant?

Hartmann: Euro-Unternehmensanleihen sind in den vergangenen Wochen sehr gut gelaufen. Die Risikoaufschläge haben neue zyklische Tiefststände markiert. Wenn die Weltwirtschaft in den nächsten Monaten unter Druck gerät, ist allerdings von einer Gegenbewegung auszugehen. Bei Papieren guter Bonität dürfte die Ausweitung der Spreads indes sehr moderat ausfallen. Mit Investment-Grade-Unternehmensanleihen sollten daher 2024 positive Erträge vereinnahmt werden. Bei High Yield bleiben wir vorsichtig. Das Risiko für eine kräftige Ausweitung der Spreads ist in diesem Segment sehr hoch.

Was ist für Anleger das größte unterschätzte Risiko dieses Jahr und darüber hinaus?

Hartmann: Der Druck auf die Gewinnmargen der Unternehmen dürfte in den nächsten Quartalen und Jahren sukzessive zunehmen. Mithin werden sich die Unternehmen in einem Umfeld tendenziell anziehender Zins- und Rohstoffkosten bei anhaltend hohem Lohndruck bewegen. Die jährlichen Kursgewinne an den Aktienmärkten dürften sich daher – anders als in den vergangenen Jahren – lediglich im niedrigen einstelligen Bereich bewegen. 

Wo sehen Sie dieses Jahr das attraktivste Rendite-Risiko-Profil?

Hartmann: Sollte sich unser Basisszenario bewahrheiten und das globale Wachstum abflauen, dürfte es zu einer Flucht in die sicheren Häfen kommen. Dann sind Staatsanleihen die beste Wahl für den Anleger. Lässt der Abschwung in den USA jedoch weiter auf sich warten, werden die Renditen von Staatsanleihen nicht sinken, sondern sogar steigen. Auch die Inflation dürfte dann wieder aufleben. In diesem Fall fährt man mit Unternehmensanleihen oder Pfandbriefen besser. Auch Aktien bestimmter Sektoren – Banken, Grundstoffe und Luxuskonsum – sowie Rohstoffe sollten sich in einem solchen Umfeld gut behaupten, das wir allerdings als weniger wahrscheinlich als unser Basisszenario ansehen.

Vielen Dank für das Gespräch. (jh)