Die extreme Volatilität an den Energiemärkten ruft die europäischen Wertpapieraufseher auf den Plan. Sie fürchten zunehmend, dass die Realwirtschaft von den Problemen auf den Energie- und Rohstoffmärkten angesteckt wird. Das machte Verena Ross, Chefin der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ESMA, vergangene Woche im Rahmen der Jahreskonferenz der österreichischen Finanzmarktaufsicht (FMA) deutlich. Sie betonte unter anderem, dass trotz der enormen Preisspitzen, mit denen die Energiefirmen in den vergangenen Monaten zurande kommen mussten, "sehr wenige" Handelsstopps an den Derivatemärkten zu sehen waren.

Handelsunterbrechungen oder andere Schutzinstrumente wie Preisbänder sind eigentlich in der Finanzmarktrichtlinie Mifid II ausdrücklich vorgesehen. Da diese Mittel offenbar nicht ausreichend eingesetzt werden, schlägt die ESMA einen eigenen EU-Mechanismus vor, der in Extremsituationen ausgelöst werden kann. Die Handelspause soll den Beteiligten Zeit verschaffen und so zu einer Normalisierung der Preisfindung beitragen.

Möglichkeiten für Fixpreisangebote werden geringer
Auch bei anderen Regeln für standardisierte außerbörsliche Derivategeschäfte ist nach Ansicht von Ross Handeln nötig. Sie verwies darauf, dass der rasche Strom- und Gaspreisanstieg hohe Nachschussforderungen ausgelöst hat. Dabei habe sich gezeigt, dass die am Clearing beteiligten Finanzunternehmen mit dem erhöhten Liquiditätsbedarf gut umgehen konnten, während das für die betroffenen Energiefirmen nicht unbedingt galt. Es gebe Hinweise, dass die Energiefirmen, die auf diese Weise unter Druck geraten, ihre Absicherungsgeschäfte auf künftige Kauf- oder Verkaufsverpflichtungen bei Strom oder Gas reduzieren. Das wiederum verringere die Möglichkeiten dieser Firmen, ihren Kunden Fixpreise zu bieten, so Ross. Sie betonte allerdings, dass sämtliche Maßnahmen, die die EU hier ergreift, mit Bedacht gewählt werden müssten. Erleichterungen dürften nicht auf der anderen Seite die Stabilitätsrisiken im Finanzmarkt erhöhen.

Es sei derzeit eine Kernaufgabe der ESMA, eine Ansteckung der Energie- und Rohstoffmärkte auf das Finanzsystem und die Realwirtschaft zu vermeiden. In diesem Umfeld könne es von Vorteil sein, wenn Aufseher und Regulatoren gerade bei OTC-Produkten (außerbörslich gehandelte Instrumente) mehr Einsicht erhalten, so Ross. Sie schlägt außerdem vor, dass die Ausnahmen, die Energiefirmen beim Derivatehandel genießen, überdacht werden. Große Unternehmen brauchen aufgrund der "ancillary activity exemption" derzeit keine Registrierung als Investmentfirma nach der Mifid-II-Regulierung. Die Regelung gelte für die Annahme, dass diese Geschäfte eine reine Ergänzung sind, so Ross. Manche Firmen würden allerdings derart große Fußspuren am Markt hinterlassen, dass man eine Lizenz überlegen und ihre Investmentaktivitäten überwachen sollte, so die ESMA-Vorsitzende.

Sinkendes Verbrauchervertrauen als Auftrag
Ross betonte bei der Konferenz auch, dass sich die ESMA mit einem sinkenden Vertrauen der Retailinvestoren auseinandersetzen müsse. Während die Lebenserhaltungskosten stark gestiegen sind und gleichzeitig viele Investments negative Realrenditen abwerfen, würden Anleger oft nicht genug darauf achten, was die Inflation für ihre Finanzanlagen und Kaufkraft bedeutet. Gleichzeitig seien Anleger zunehmend Ziel aggressiven Marketings oder von Social-Media-Influencern, die oft ungeeignete Hochrisikoprodukte bewerben. "Wir müssen die Anleger mehr schützen. Nur dann können wir ihr Vertrauen in die Effizienz des Kapitalmarktes erhöhen", so Ross.

Um das Verbrauchervertrauen zu stärken, habe die ESMA der Europäischen Kommission unter anderem vorgeschlagen, dass die überfrachteten Anlegerinformationen überdacht werden und Komplexitäten aus den Unterlagen herausgenommen werden. Gleichzeitig sollten zum Beispiel Informationsmaterialien, wie das Priips-KID für verpackte Versicherungsanlageprodukte, "digital-fit" gemacht werden und die ESG-Bedürfnisse besser abbilden.

"Müssen uns auf Marktkorrekturen einstellen"
Ross mahnte die Zuhörer bei der FMA-Konferenz insgesamt zur Vorsicht. "Wir alle müssen uns auf weitere Marktkorrekturen einstellen", sagte sie, betonte aber zugleich, dass das europäische Gefüge nicht unvorbereitet in die turbulenten Zeiten gehe, und verwies auf Erfahrungen aus früheren schwierigen Situationen, wie Staatsschuldenkrise, Brexit oder Covid-Pandemie.

Dabei skizzierte die ESMA-Chefin eine der wesentlichen aktuellen Herausforderungen für die politischen Akteure. Neben Problemen wie Pandemie, Krieg oder Inflation, die ein rasches Reagieren erfordern, machen sich immer stärker die langfristigen Erfordernisse bemerkbar: Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Bevölkerungsalterung. Das Problem: Die langfristigen Trends laufen oft den kurzfristigen Bedürfnissen der Politik zuwider. Entscheidungsträger seien mit schwierigen Abwägungen konfrontiert – etwa die Rückkehr zur klimafeindlichen Kohle, um den Rückgang der russischen Gaslieferungen zu kompensieren, während man gleichzeitig den Green Deal vorantreiben muss. (eml)