Hans Peter Schupp, Vorstand des Vermögensverwalters Fidecum, kritisiert die hohe Bedeutung, die dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) beigemessen wird. Diese Kennzahl sei ungeeignet, wenn es darum gehe, den Wohlstand eines Landes zu messen. "Da sollten doch eher die Gewinne der Unternehmen im Vordergrund stehen oder die Höhe der Arbeitslosigkeit und der Löhne", meint der Manager des Aktienfonds Fidecum Contrarian Value Euroland in einem aktuellen Marktkommentar.

Schupp erinnert an die Entstehung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung: "Ernsthaft hat sich die VWL erst nach der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts damit beschäftigt. Man versuchte zu errechnen, wie negativ sich denn die Folgen dieser Krise auswirken", so der Portfoliomanager. Dafür wurde die sogenannte Verteilungsrechnung genutzt, das zusammengefasste Einkommen des Volkes – Löhne, Vermögens- und Unternehmenseinkommen. "Dummerweise entwickelte sich dieses nach 1941, dem Kriegseintritt der USA, nicht mehr so wie gewünscht. Das Geld wurde für den Krieg benötigt und stand daher der Bevölkerung nicht mehr zur Verfügung", berichtet Schupp. "Also brauchte man eine neue Kennzahl, die Wohlstand suggerierte, obwohl es der Bevölkerung schlechter ging."

"Die ursprüngliche Idee pervertiert"
Schon damals sei bekannt gewesen, dass man die Leistung einer Volkswirtschaft auf drei Wegen ermitteln könne: Entstehung, Verteilung und Verwendung. "So änderte man die Methodik ganz einfach von Verteilung auf Entstehung", so der Fidecum-Vorstand. "Von nun an stand nicht mehr das Einkommen, sondern die Produktion im Fokus. Das Ganze hatte den Charme, dass die Produktionszahlen in den Kriegsjahren gar nicht so schlecht aussahen, da Kriegsgerät, Waffen und Munition gebraucht und produziert wurden." So sei wohl auch das zuletzt erstaunlich hohe Wirtschaftswachstum in Russland zu erklären. "Damit wird aber die ursprüngliche Idee, den Wohlstand einer Volkswirtschaft zu messen, pervertiert", meint Schupp.

Als Beispiel nennt er eine Massenkarambolage auf der Autobahn – ein unstrittig negatives Ereignis. Aber: Die nötigen Ausgaben für die Reparaturen oder den Neuwagenkauf sowie der Einsatz der Abschleppfahrzeuge steigern das Bruttoinlandsprodukt. "Wenn beispielsweise der Wiederaufbau nach einem Erdbeben das BIP erhöht und die Steigerung des BIPs die Kerngröße ist, nach der wir Volkswirtschaften beurteilen, dann müssten wir uns ja solche negativen Ereignisse geradezu wünschen", so Schupp. Daher sei zumindest zu hinterfragen, ob das Wirtschaftswachstum die entscheidende Bezugsgröße zur Beurteilung einer Volkswirtschaft und das Hauptziel einer staatlichen Wirtschaftspolitik sein sollte.

Zum Abschluss nennt Schupp ein schönes Beispiel für die Skurrilität der Berechnungen: "Warum geht meine Arbeitszeit, wenn ich mir ein Ei koche, nicht in das BIP ein? Bestelle ich es jedoch im Restaurant, ist die Zubereitung Bestandteil des Bruttoinlandsproduktes." (fp)