Der Ruf deutscher Wirtschaftsprofessoren nach Strukturreformen in der Europäischen Union (EU) geht an der ökonomischen und politischen Realität in den meisten EU-Ländern vorbei, erklärt die Privatbank J. Safra Sarasin. In der vergangenen Woche hatten 154 Top-Ökonomen in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) davor gewarnt, die europäische Währungs- und Bankenunion noch weiter zu einer Haftungsunion auszubauen. Zudem hatten sie die europapolitischen Vorstellungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker kritisiert und Strukturreformen gefordert. 

In Europa redeten mal wieder alle aneinander vorbei – und in diesem Umfeld verwundere der Aufruf der Wirtschaftsprofessoren, sagt Karsten Junius, Chefvolkswirt von J. Safra Sarasin. So sei zumindest ein Teil der italienischen Parteien eben gerade nicht gewählt worden, weil sie Strukturreformen, sondern weil sie eine expansivere Fiskalpolitik versprochen hätten. Einen effektiven Mechanismus, die italienische Regierung von einem übermäßigen fiskalischen Stimulus abzuhalten, besitze Europa nicht. "Das Europäische Semester mit seinen Defizit-Prozeduren und Politikvorschlägen ist hier mehr ein zahnloser Tiger und wird zu Recht kaum mehr in der Öffentlichkeit diskutiert", heißt es dazu. 

Wirtschaftspolitische Maßnahmen müssen realistisch sein
Junius unterstützt wirtschaftspolitische Maßnahmen, die den Euro stabiler machen: "Dabei sollte berücksichtigt werden, dass nationale Wirtschaftspolitiken, die in der Vor-Europhase funktioniert haben, nun nicht mehr unbedingt funktionieren und vor allem nicht in allen Ländern gleich angenommen würden." Technisch ausgefeilte Regeln und Anreize in der Währungsunion würden nur dann helfen, wenn sie an der ökonomischen Realität der Wähler nicht vorbei gingen. "Die politischen Realitäten würden sich sonst entsprechend ändern, sodass eine Konsensfindung im europäischen Kontext immer schwieriger wird." (fp)