Karen Ward, Europa-Chefstrategin bei J.P. Morgan Asset Management, glaubt, dass globale Investoren Europa unterschätzen und in ihren Portfolios zu wenig berücksichtigen. "Das wird sich aber ändern", sagte Ward bei einer Veranstaltung in London. Sie ist überzeugt, dass die Europäische Union in den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte erreicht und wichtige politische Weichenstellungen getroffen hat.

"Fundamentale Fortschritte in Europa"
Ward hebt etwa das Management der Energiekrise im vorigen Jahr hervor. Europa habe sich angesichts der Herausforderungen außerordentlich gut behauptet, auch wenn der relativ milde Winter einen Teil beigetragen habe. Das Risiko, dass die europäische Wirtschaft durch höhere Energiekosten dauerhaft benachteiligt ist, ist ihrer Meinung nach durch die effizientere Energienutzung und die breitere Versorgung deutlich gesunken. Ward hebt zudem wichtige Entscheidungen zur Flankierung der Währungsunion mit gemeinsamen fiskalpolitischen Komponenten hervor. "In den letzten drei Jahren hat Europa hier fundamentale Fortschritte gemacht", so Ward. Die EU hatte im Zuge der Corona-Hilfen unter anderem den über gemeinschaftliche Mittelaufnahmen finanzierten Wiederaufbaufonds beschlossen, der vor allem nachhaltigen Reformen und Investitionen zugute kommen soll. Europas Antwort auf die Corona-Krise sei deutlich langfristiger ausgerichtet als etwa die US-Fiskalmaßnahmen, so Ward. 

"Deutliche Unterschiede zu 2008"
Wie sich die aktuellen Turbulenzen im Bankensektor weiter entwickeln, lässt sich ihrer Meinung nach noch nicht mit Sicherheit abschätzen. Sie betont aber, dass sich die Stresssituation am Banken- und Finanzmarkt deutlich von der Lage zu Beginn der globalen Finanzkrise 2008 unterscheidet. "Damals hatten wir einen gleichzeitigen Konjunktur- und Finanzmarktboom in den USA", so Ward. "Diesmal gibt es keinen Boom, weder bei den Konsumausgaben noch am Häusermarkt, und auch keine exzessiven Übertreibungen und Überschuldung." Auch das Risiko einer Ausweitung auf andere Sektoren wie die Versicherungsindustrie stuft sie als gering ein, ebenso wie die Wahrscheinlichkeit, dass sich die konjunkturelle Verlangsamung in eine tiefgreifende und anhaltende Rezession auswächst.

"Zinsanhebungen die richtige Entscheidung"
Trotz der Turbulenzen im Bankensektor hält Ward die jüngsten Zinsanhebungen um 50 Basispunkte in Europa und 25 Basispunkte in den USA für richtig. "Die Inflation ist noch immer deutlich zu hoch und gerade aus Sicht der US-Notenbank läuft die Wirtschaft heiß", so Ward. Das gelte trotz der Belastungen für die Banken. Sie erwartet, dass die Geschäftsbanken in den kommenden Monaten ihre Kreditvergabe reduzieren werden. "Das wird die Liquiditätskonditionen zusätzlich zu den Zinserhöhungen weiter einschränken und wirkt zusätzlich restriktiv." In der Konsequenz könnte der Zinsgipfel in den USA und Europa tiefer liegen als noch vor wenigen Wochen erwartet. 

"Anleihen sind zurück"
Eine wichtige Rolle in Portfolios sieht die Europa-Strategin wieder für Anleihen. Nachdem Zinspapiere in den Jahren der quantitativen Lockerung aus Ertragsperspektive wie aus Diversifikationsaspekten keine gute Wahl gewesen seien, habe sich das mit der Rückkehr der Zinsen geändert. "Anleihen sind zurück", so Ward. Auf dem erreichten Zinsniveau würden sichere Anleihen nicht nur laufende nominale Erträge erzielen, sondern hätten zudem auch Kurspotenzial im Fall von Kursrückgängen am Aktienmarkt. Eine Rückkehr zu dauerhaft niedriger Inflation und niedrigen Zinsen hält sie aber für unrealistisch. "Die Ära niedriger und stabiler Inflation und Nominalzinsen ist vorüber."

Energietransformation als wichtiges Anlagethema
Ward glaubt, dass Europas Aktienmärkte davon profitieren werden, wenn internationale Anleger die Chancen erkennen und ihre Europa-Allokationen neu gewichten. "Wir sind zuversichtlich für Europa", so Ward. Während sie Substanzwerte weiter als attraktiv erachtet, hält sie insbesondere die Firmen für aussichtsreich positioniert, die von der Transformation der Wirtschaft zu Nachhaltigkeit und Klimaneutralität profitieren. (jh)