Wieviel unbeschwerter wäre das Berufsleben als Berater, könnte man die immerwährende Kundenfrage, wann der optimale Zeitpunkt für ein Börsenengagement gekommen ist, mit dem Verweis auf schlichte Regeln beantworten. Eine solch simple Timing-Taktik gibt es tatsächlich, in Form des sogenannten "Kalendereffekts" – und der scheint gültiger denn je zu sein.

Der Begriff fasst zusammen, dass die Performanceverteilung an den Börsen einem auffälligen saisonalen Monatsmuster folgt. Die Daumenregel: Sobald die Temperaturen sinken, gehen die Aktienkurse nach oben – und das weltweit! Auswertungen internationaler Kapitalmarktstatistiken zufolge ist das Winterhalbjahr an einer Vielzahl von Aktienmärkten das lukrativere, wohingegen das Sommersemester im Bestfall performanceschwach und tendenziell verlustreich ist. Der prägnante Spruch "Sell in May and stay away, but remember to come back in September" stimmt also – wenn man ihn leicht abwandelt: Denn statt "September" muss es "November" heißen.

Zahlreiche statistische Belege, aber…
Besonders gründlich ging der neuseeländische Finanzmarktwissenschaftler Ben Jacobsen dem "Kalendereffekt" auf den Grund: Er wies die Saisonalität für gleich 109 nationale Börsen nach – anhand von Daten, die teilweise bis ins Jahr 1695 zurückreichen, also in die Gründungsphase der Aktien-Umschlagplätze. Sein Resultat: An den meisten Börsen sind die Renditen in der Zeitspanne von November bis April deutlich höher als von Mai bis Oktober. Während der Wintermonate legten die Kurse laut Jacobsens Datenrecherche im Schnitt um 6,9 Prozent zu, im Sommerhalbjahr dagegen nur um 2,4 Prozent.

Für die USA zeigten die Ökonomen Jeffrey und Yale Hirsch Ähnliches. In der langen Frist sind die Performance-Unterschiede auch hier eklatant: Hätte ein Investor sein Kapital seit 1950 nur in den sechs Wintermonaten in den Dow-Jones-Index investiert, wäre sein Vermögen um das über Hundertfache gestiegen. Wer dagegen nur in den Sommermonaten engagiert war, hat über die letzten 68 Jahre in der Sommersaison unterm Strich magere zehn Prozent dazuverdient.

…keine rational belastbare Begründung
Verfechter der Saisonstrategie meinen nun, Anleger könnten den Börsenlaunen entkommen, indem sie diesen Kalendereffekt durch geschickt getimte Käufe und Verkäufe gezielt ausnutzen. Doch nicht alle sind überzeugt – und appellieren an den gesunden Menschenverstand: Wäre das Saisonmuster so zuverlässig wie behauptet und der Markt derart einfach zu überrumpeln, würden alle vernünftigen Investoren diesen Effekt nutzen. Doch je mehr ihr Heil im Kalendereffekt suchen und Konkurrenten zuvorzukommen versuchen, indem sie kaufen, bevor die Kurse im Herbst davonlaufen, desto eher müssten die monatsspezifischen Performancespitzen im Winterhalbjahr abgeschliffen werden – und das merkwürdige Muster mit der Zeit verschwinden.

Dumm nur, dass dem Phänomen mit Logik nicht beizukommen und der Effekt gerade in jüngster Zeit nicht schwächer, sondern stärker geworden ist, wie die "Neue Zürcher Zeitung" (NZZ) anhand des Schweizer Aktienmarktes feststellt. Für den Zeitraum 1998 bis 2019 hätte ein imaginärer "Winter-Aktionär" eine durchschnittliche Plus-Performance von 5,8 Prozent per annum erzielt, wohingegen der "Sommer-Börsianer" einen Verlust von jährlich 0,3 Prozent erlitt.

Gleiches gilt auf europäischer Ebene: Im Wintersemester legten die Kurse seit 1998 um durchschnittlich 3,9 Prozent zu, wohingegen das Sommerhalbjahr mit einem Minus von 3,3 Prozent per annum negativ zu Buche schlug. Interessanterweise waren die Ergebnisse im Winter immer in jenen Jahren am besten, wenn die Kursentwicklung insgesamt rückläufig war, haben die NZZ-Redakteure ermittelt. Der verheerende Börsenherbst von 2018 könnten also dazu beigetragen haben, dass der Kalendereffekt zuletzt wieder stärker zum Tragen kommt.

Fantasie statt Fakten
An wolkigen Erklärungsversuchen für das Performance-Phänomen mangelt es nicht – an wissenschaftlich fundierten Belegen indes schon. Einige Beobachter argumentieren beispielsweise mit einer Art Wetterfühligkeit der Anleger. Eine andere Theorie schaut den Investoren in die Lohntüte: Weil viele Firmen im Dezember und Januar die Boni und die 13. Jahresgehälter an ihre Angestellten auszahlen, suche um die Jahreswende besonders viel Kapital nach Rendte – was die Kurse befeuert.

Der Genfer Asset Manager Jean-Evrard Dominicé hat laut NZZ noch eine andere Begründung parat: "Vermögensverwalter nehmen Anfang des Jahres mehr Risiko auf sich, um die angestrebten Renditeziele zu erreichen, und reduzieren dieses dann im Laufe des Jahres, sobald sie ihre Performanceziele erreicht haben." Für die Investmentprofis stehe ja auch die eigene Karriere auf dem Spiel. Haben sie die Vorgaben ihrer Klienten im Laufe des Jahres erreicht, gebe es für sie keinen Grund mehr, im Risiko zu bleiben und so vielleicht die ganze Performance zu verlieren.

Nicht denken, handeln!
Vielleicht stimmt nüchtern besehen, was Alfons Cortés sagt: Dass Versuche, die auffälligen Performancemuster durch nachgeschobene realwirtschaftliche oder verhaltenstheoretische Überlegungen plausibel zu machen, zwar menschlich nachvollziehbar – aber im Grunde überflüssig sind. "Wichtig ist es nur, die Fakten festzustellen", zitiert die NZZ den anerkannten Markttechniker und Senior-Partner der Vermögensverwaltung Unifinanz aus Vaduz. Cortés' Credo: "Das Faktische entscheidet über den Erfolg an den Finanzmärkten, unabhängig davon, ob sie rational erklärbar sind." (ps)