"Wie schwierig Prognosen für die Zukunft sind, zeigt sich eindrucksvoll an den Einschätzungen nahezu aller Finanzmarktakteure in Sachen Inflation", schreibt Adolf Rosenstock, volkswirtschaftlicher Berater beim bankenunabhängigen Vermögensverwalter Mainsky Asset Management in einer aktuellen Analyse. Dass sich Energie und Nahrungsmittel so stark und so schnell verteuern würden, sei eben nicht zu erwarten gewesen. Als Problem komme hinzu, dass gerade die steigenden Öl- und Gaspreise nun auch die Kernrate der Teuerung nach oben drücken würden. "Die Import- und im Gleichlauf die Produzentenpreise wurden so aus dem Zustand absoluter Stabilität vor nur einem Jahr auf einen Anstieg von über 30 Prozent getrieben", so Rosenstock. Das sei ein Nachkriegsrekord.

In der Konsequenz nehme nun auch der rein inländische Preisdruck zu, die EZB erwarte eine beunruhigende Beschleunigung auf aktuell gut drei Prozent. Damit liege das Augenmerk jetzt auf der Entwicklung am Arbeitsmarkt. "Noch ist die Lohn-Preis-Spirale nicht in Gang gekommen", so Rosenstock. "Aber zunehmender öffentlicher Druck und ein weiterer drohender Glaubwürdigkeitsverlust zwingen die EZB auch so schon zu einer Blutgrätsche gegen eine überwiegend angebotsindizierte Inflation, der sie nicht wirklich Herr werden kann." Zwei Prozent Leitzins in der Eurozone im ersten Quartal 2023 seien ein durchaus realistisches Szenario. 

Nicht nur die EZB sei in den vergangenen Monaten von der Realität überrollt worden. Dass sich Energie und Nahrungsmittel so stark und so schnell verteuern würden, hätten nur die allerwenigsten auf dem Zettel gehabt. Da aber gerade Energie für alle anderen Güter und Dienstleistungen ein mehr oder weniger wichtiger Input sei, werde jetzt auch die Kernrate hiervon nach oben gedrückt – eine Art kostengetriebene Inflation überall.

Importierte Inflation macht Deutschland ärmer
Gleichzeitig mit der von außen kommenden Kostenexplosion seien die "Terms of Trade", also die Differenz zwischen Im- und Exportpreisen in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, rapide gefallen. Für die gleiche Menge Importe müsse Deutschland nun zwölf Prozent mehr Autos, Maschinen und Ähnliches exportieren. "Die deutsche Volkswirtschaft wird massiv ärmer", erläutert Rosenstock und folgert: Für viele inklusive der EZB sei eine neue Ära hoher Inflation bereits so etwas wie ausgemachte Sache. Deshalb müsse die Notenbank auch unbedingt die Zinsen schnell und kräftig erhöhen, öffentliche Defizite müssten drastisch reduziert werden. Außerdem soll auch "etwas dafür getan werden", um die Verbraucher zu entlasten. Das sei mittlerweile populärer Konsens.

"Trotzdem sollte vor Panik und Kurzschlussentscheidungen gewarnt werden", so der Volkswirt. Es sei nämlich keineswegs sicher, dass in der Eurozone ein nachhaltiger Inflationsprozess begonnen habe, die Betonung liegt dabei auf Prozess. Bis jetzt seien zwar relative Preiserhöhungen, entsprechende Kostensteigerungen bei den Unternehmen sowie Kaufkraftverluste im Privatsektor zu erkennen. Daraus werde aber erst dann dauerhafte Inflation, wenn die Unternehmen ihre gestiegenen Kosten vollumfänglich in höheren Preisen an die Kunden weitergeben und es den Beschäftigten gelinge, den Kaufkraftverlust mittels Einkommenssteigerungen auszugleichen. "Zum ersten Punkt gibt es leider keine verlässlichen Daten", so Rosenstock. "Wir gehen aber davon aus, dass mit bald einsetzender Nachfrageflaute auch die realen Gewinnmargen schrumpfen werden."

Nahezu keine Chance auf den Ball
"Beim Fußball bezeichnet eine Blutgrätsche den absichtlichen Tritt eines Gegenspielers, ohne dass eine Chance besteht, den Ball zu treffen", erklärt Rosenstock seine Metapher. Das werde auch als Notbremse bezeichnet, um ein Davoneilen des Gegenspielers in Richtung eigenes Tor zu verhindern, geahndet mit der Roten Karte. "In unserem Fall grätscht die EZB dem Gegenspieler Inflation in die Knochen, wohlwissend, dass sie den überwiegend angebotsindizierten Preisdruck nicht wirklich aufhalten kann", so der Volkswirt. Vielmehr zwinge sie zum einen der steigende öffentliche Druck, "etwas gegen die Inflation zu unternehmen". Zum anderen komme das Risiko hinzu, dass die tatsächliche Inflation am Jahresende unverändert über der EZB-Prognose liege, mit der Folge eines zunehmenden Glaubwürdigkeitsverlustes und weiter steigenden Inflationserwartungen.

Rosenstock geht davon aus, dass der EZB-Rat in den verbleibenden vier Sitzungen des Jahres den Leitzins um 150 bis 200 Basispunkte anheben wird. Weitere Schritte im nächsten Jahr seien von der Datenlage abhängig. In seinem Szenario würden die Erhöhungsschritte dann mit fallender Inflation auf 25 Basispunkte reduziert. Solange der inländische Preisdruck aber nicht nachlasse, bleibe der Pfad nach oben gerichtet. Über den Zeitpunkt, zu dem mit einer Zinswende zu rechnen sei, könne derzeit nur spekuliert werden, er sei ebenso wenig prognostizierbar wie noch vor einem halben Jahr die Inflationsentwicklung. (hh)