Marcel Fratzschers Bedeutung als Top-Ökonom in Europa ist unumstritten. Seit der 45-Jährige an der Spitze des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) steht, ist seine Meinung zu wirtschafts- und finanzpolitischen Themen gefragt – er berät SPD-Chef Sigmar Gabriel, aber auch Finanzminister Wolfgang Schäuble und die deutsche Kanzlerin. Fratzscher hat in Kiel, Oxford und Harvard studiert und in Florenz ­promoviert. Seine berufliche Laufbahn führte ihn als Analyst nach Kenia, als Makroökonom beim Harvard Institute for International Development nach Jakarta und schließlich zur Europäischen Zentralbank in Frankfurt, bei der er von 2001 bis 2012 tätig war. Lesen Sie im Anschluss seinen Original-Kommentar.


Das britische Brexit-Referendum, die Volksabstimmungsniederlage und der Rücktritt des italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi sowie die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten haben im Westen und vor allem in Europa ein Machtvakuum hinterlassen. In einer Zeit, in der Europa gemeinsam wichtige wirtschafts- und außenpolitische Entscheidungen treffen muss, sind die größeren EU-Mitgliedstaaten wie Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Daher wächst der Druck auf die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und ihre Regierung, die Führung zu übernehmen.

Aber auch wenn Deutschland dazu bereit ist, braucht es europäische Partner, die sich engagieren und Kompromisse eingehen. Die Kritiker Deutschlands haben recht damit, dass das Land für politische Vorschläge anderer Mitgliedstaaten offener sein müsste, aber viele andere Beschwerden gegen Deutschland waren unfair – und oft eigennützig.

So wurde der deutschen Regierung vorgeworfen, sich nach der Finanzkrise von 2008 in Europa nicht solidarisch gezeigt zu haben. Aber auch wenn die die deutschen Maßnahmen oft zu spät kamen oder schlecht durchdacht waren – wie der Vorschlag eines "temporären Grexit" – hat die deutsche Regierung doch einer Vielzahl von Rettungsprogrammen, der Gründung des Europäischen Stabilitätsmechanismus und einer EU-Bankenunion zugestimmt. Darüber hinaus hat das Land den Hauptanteil der finanziellen Belastungen getragen.

Oft wurde Deutschland auch dafür kritisiert, dass es den Eurobonds und einer Transferunion nicht zugestimmt hat. Häufig wurde dabei aber nicht ehrlich argumentiert: Mitgliedstaaten wie Frankreich möchten Risiken teilen, aber gleichzeitig nur ein geringes Maß ihrer wirtschaftspolitischen Souveränität aufgeben. Deutschlands Regierung und Bürger stehen der tieferen Integration, die für einen nachhaltigen Euro erforderlich ist und auch eine Fiskalunion umfasst, offener gegenüber als die meisten anderen Länder. Um dies aber zu erreichen, müssen alle Partner bei der Teilung der politischen Souveränität und der Risiken einen Schritt nach vorn gehen.

Eine dritte Beschwerde über Deutschland lautet, es betreibe durch restriktive Haushaltsmaßnahmen, die zu einem übermäßigen Leistungsbilanzüberschuss von fast 9% des BIP geführt haben, eine Politik auf Kosten seiner Nachbarn. Dies war tatsächlich ein Fehler. Aber in erster Linie ist dies Deutschlands eigenes Problem. Dort gibt es zwar eine massive Investitionslücke, die die Produktivität und das Wachstum im Inland behindert, aber diese ist nicht der Hauptgrund für das schwache Wachstum, die hohe Arbeitslosigkeit, die geringe Wettbewerbsfähigkeit und die vielen anderen wirtschaftlichen Übel im Rest Europas.

Zugegebenermaßen lagen viele deutsche Politiker mit ihrer Sparbesessenheit und ihrer Kritik am geldpolitischen Kurs der Europäischen Zentralbank falsch. Aber ihre Frustration über das langsame Reformtempo in der EU ist gerechtfertigt. Alles in allem sind die Deutschen zutiefst europafreundlich eingestellt, und die deutsche Regierung hat mehr für Europa getan, als ihr zugestanden wird.

Rückblickend sind Führungsfehler immer leicht zu finden und zu kritisieren. Konstruktiver wäre es, die Entscheidungen anhand der Informationen zu beurteilen, die zu der Zeit verfügbar waren, in der sie getroffen wurden, und zukünftige Entscheidungen auf der Grundlage vergangener Erkenntnisse zu treffen. Im Nachhinein betrachtet hätte die deutsche Regierung – und wahrscheinlich jede Regierung – in Bezug auf die griechische Schuldenkrise, die Haushaltspolitik, das Brexit-Referendum und vieles mehr sicherlich anders gehandelt. Also ist es fairer, die Leistung der deutschen Führung mit derjenigen anderer großer europäischer Regierungen zu vergleichen. Ginge es Europa heute tatsächlich besser, wenn sich die deutsche Regierung in den letzten Jahren dem Weg ihrer französischen, britischen oder italienischen Kollegen angeschlossen hätte?

Auch wenn Merkel auf die Krisen in Italien und Griechenland zu spät reagiert hat, hat sie doch außerordentliche Toleranz, Offenheit und Voraussicht bewiesen. In zwei Hauptbereichen – der Flüchtlingskrise und der Antwort auf die russische Aggression – hat ihre Regierung mehr europäische Solidarität gezeigt als die meisten anderen Mitgliedstaaten.

Auch in ihrer Reaktion auf den Sieg Trumps hat Merkel Führungsstärke bewiesen. Sie hat ihm gratuliert und ein enges Arbeitsverhältnis angeboten, aber nur auf der Grundlage "gemeinsamer Werte" wie "Demokratie, Freiheit sowie Respekt vor der Rechtsstaatlichkeit und der Würde aller Menschen". Ebenso ist sie bei den bevorstehenden Brexit-Verhandlungen die wichtigste und verständnisvollste Partnerin der britischen Regierung.

Für ihre Zustimmungsraten wird Merkel von den anderen europäischen Politikern beneidet, und vielleicht wird sie einmal die letzte gut geerdete und nicht populistische Regierungschefin der großen westlichen Länder sein. Die italienische Verfassungsreform von 4. Dezember könnte der letzte Weckruf für Europa gewesen sein, um sich zusammenzureißen und die Probleme der sozialen Spaltung, des politischen Extremismus und der immer tieferen wirtschaftlichen und politischen Krisen zu lösen.

Die deutsche Regierung sollte aus ihren Fehlern der Vergangenheit lernen und weiterhin in Europa die Führung übernehmen. Aber dies kann sie nicht allein tun. Die anderen EU-Regierungen sollten aufhören, auf Deutschland herumzuhacken, um damit von ihren eigenen Schwächen abzulenken. In den letzten Jahren gingen ihre Angriffe zu weit und waren kontraproduktiv. Deutschland braucht Partner, die sich mit an den Tisch setzen und einen konstruktiven Dialog über konkrete Lösungen für die immer tiefere europäische Krise führen.

© Project Syndicate, www.project-syndicate.org