Harvard-Professor Michael Spence erhielt 2001 gemeinsam mit George A. Akerlof und Joseph E. Stiglitz den Wirtschaftsnobelpreis für seine Arbeiten über das Verhältnis von Informationen und Märkten, insbesondere der Adversen Selektion. Spence ist Mitbegründer des Institute for New Economic Thinking (INET), um neue Denkansätze für die Volkswirtschaftslehre zu entwickeln. Lesen Sie im Anschluss seinen Original-Kommentar.


Ich glaube nicht, dass Ausländer einen sinnvollen Beitrag leisten, wenn sie ihre starken Meinungen dazu äußern, wie die Bürger eines Landes oder einer größeren Einheit wie der Europäischen Union sich angesichts einer wichtigen politischen Wahlmöglichkeit entscheiden sollten. Vielleicht sind unsere Einsichten, die auf internationalen Erfahrungen beruhen, manchmal hilfreich, aber dabei sollte die Asymmetrie der Rollenverteilung nie aus den Augen verloren werden.

Dies gilt insbesondere für die britische Volksabstimmung über die Frage, ob das Land in der EU bleiben will. Wenige Tage vor der Wahl ist nur sicher, dass das Ergebnis knapp ausfallen wird, und es scheint genug unentschlossene Wähler zu geben, um es in die eine oder andere Richtung zu bewegen. Aber angesichts der politischen und sozialen Fragmentierung, die weit über Europa hinausgeht, könnten Außenseiter vielleicht zur Erklärung dessen beitragen, um was es wirklich geht.

Zunächst wird es nicht überraschen, dass das Wachstumsmuster in großen Teilen der entwickelten Welt bezüglich der Verteilung der Einkommen, des Wohlstands und der Vor- und Nachteile des erzwungenen Strukturwandels in den letzten zwanzig Jahren problematisch war. Wir wissen, dass die Globalisierung und manche Aspekte der Digitaltechnologie (insbesondere Automatisierung und Disintermediation) in allen Ländern zur Polarisierung von Arbeit und Einkommen sowie zum anhaltenden Druck auf die Mittelklasse beigetragen haben.

Zweitens hat die anhaltende Krise Europas (die mehr an eine chronische Krankheit erinnert) dazu geführt, dass das Wirtschaftswachstum viel zu schwach und die Arbeitslosigkeit – insbesondere unter Jugendlichen – inakzeptabel hoch ist. Und Europa ist nicht allein. In den Vereinigten Staaten ist die Arbeitslosenquote zwar formal zurückgegangen, aber die Tatsache, dass die Inklusion weitgehend gescheitert ist, hat – sowohl bei der Linken als auch bei der Rechten – zu Unzufriedenheit mit Wachstumsmustern geführt, von denen diejenigen an der Spitze überproportional profitieren.

Angesichts der enormen Ausmaße der jüngsten wirtschaftlichen Schocks wären die Bürger der Industriestaaten sicherlich weniger unglücklich, wenn es – auf der Grundlage echter Lastenverteilung – Anzeichen für umfassende Bemühungen gäbe, diese Probleme zu lösen. Und im Fall von Europa wäre dazu eine multinationale Anstrengung nötig.

Aber auf diese Missstände gab es – wiederum in der ganzen entwickelten Welt – keine effektiven Antworten. Die Zentralbanken wurden mit ihren Zielvorgaben, die ihrer Möglichkeiten und die Kapazität ihrer Mittel weit übersteigen, weitgehend allein gelassen, während Teile der Elite auf ihre Chance warten, den Geldpolitikern für die schlechte wirtschaftliche Leistung die Schuld zu geben.

Angesichts der nicht-geldpolitischen Lösungsansätze, die im Verhältnis zum Ausmaß unserer Probleme irgendwo zwischen unzureichend und nichtexistent anzusiedeln sind, wäre die natürliche Reaktion in einer Demokratie, die Entscheidungsträger auszutauschen und etwas anderes zu versuchen. Immerhin ist Demokratie ein System für Experimente und den Ausdruck des Willens seiner Bürger sein. Natürlich muss das „Neue“ nicht unbedingt besser sein. Es könnte auch schlimmer sein – vielleicht sogar viel schlimmer.

Drittens hat die EU ein massives Problem, von dem ein Großteil der entwickelten Welt betroffen ist: Mächtige Kräfte, die jenseits der Kontrolle der gewählten Politiker agieren, prägen das Leben der Bürger und geben ihnen ein Gefühl der Machtlosigkeit. Während alle Länder mit den Herausforderungen der Globalisierung und des technologischen Wandels umgehen müssen, befinden sich wichtige Elemente der EU-Regierung außerhalb der Reichweite demokratischer Institutionen – zumindest jener, die von den Menschen verstanden werden und zu denen sie eine Beziehung haben.

Dies bedeutet nicht, dass kleinräumigere Regierungsformen frei von Problemen sind. Dort bestehen die üblichen Probleme in Korruption, Interessengruppen und schierer Inkompetenz. Aber demokratische Regierungen können zumindest im Prinzip korrigiert werden, da es institutionelle Abwehr- und Gegenmaßnahmen gibt.

Insbesondere in der Eurozone ist die Lage sehr instabil. Gründe dafür sind die zunehmende Entfremdung der Bürger von einer entfernten, technokratischen Elite, die Abwesenheit konventioneller wirtschaftlicher Anpassungsmechanismen (Wechselkurse, Inflation, öffentliche Investitionen usw.) und die enge Begrenzung haushaltspolitischer Transferleistungen, was viel über die tatsächlichen Grenzen des Zusammenhalts aussagt.

Ein Brexit wäre nur ein Teil dieses größeren Dramas. Es geht nicht in erster Linie um die Wirtschaft, sondern um die Regierungsweise. Streng ökonomisch betrachtet können sowohl Großbritannien als auch der Rest der EU bei einem Austritt nur verlieren. Wäre das alles, wäre kein anderes Ergebnis vorstellbar als ein Verbleib.

Das wirkliche Thema – effektive und integrative Selbstverwaltung – ist nirgends leicht zu bewältigen, da Kräfte wie technologische Umwälzungen nicht vor Staatsgrenzen haltmachen. Teilweise stimmen die Briten darüber ab, ob ihre Fähigkeit, in diesen turbulenten Wassern zu navigieren, durch eine weitere EU-Mitgliedschaft verbessert oder verschlechtert wird. Aber es geht auch um die grundlegendere Frage der politischen Identität – ebenso wie bei der Abstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands im Jahr 2014.

Einige Briten (vielleicht sogar die Mehrheit) und viele andere EU-Bürger möchten immer noch, dass sich zukünftige Generationen als Europäer sehen (wenn auch mit einem stolzen britischen, deutschen oder spanischen Ursprung), und sie sind bereit, der Reform der europäischen Regierungsstrukturen noch eine Chance zu geben. Und sie denken zu Recht, dass die Welt mit einem vereinigten, demokratischen Europa als entscheidendem Einflussfaktor für Stabilität und auch für Wandel ein erheblich besserer Ort wäre.

Dies ist auch meine Hoffnung, auch wenn sie an Wunschdenken grenzen mag. Unabhängig vom Ergebnis des Brexit-Volksentscheids (wie viele Ausländer hoffe ich, dass sich Großbritannien für einen Verbleib in der EU und für Reformen von innen heraus entscheiden wird), sollte die britische Abstimmung, gemeinsam mit ähnlichen starken politischen Trends in anderen Ländern, zu einer umfassenden Neubewertung der europäischen Regierungs- und Institutionsstrukturen führen. Das Ziel sollte darin bestehen, den Wählern wieder ein Gefühl für Kontrolle und Verantwortlichkeit zu geben.

Langfristig wäre dies eine gute Entwicklung. Dazu wäre in allen Teilen Europas eine inspirierte politische Führung erforderlich – die die Regierung, die Unternehmen, die organisierte Arbeit und die Zivilgesellschaft umfasst und die Verpflichtung auf Werte wie Integrität, Inklusivität, Verantwortung und Großzügigkeit einschließt. Dies ist eine große Aufgabe, aber sie ist keineswegs unmöglich zu bewältigen.

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