Für das Geld auf dem Sparbuch oder Tagesgeldkonto gibt es längst keine nennenswerten Zinsen mehr. Immer mehr Geldhäuser in Deutschland verlangen mittlerweile sogar als "Verwahrentgelte" getarnte Strafzinsen. Ihnen seien leider die Hände gebunden, argumentieren die Geschäftsbanken nur allzu gerne. Die Ursache liege in der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die den Kreditinstituten bekanntermaßen ebenfalls Minuszinsen in Höhe von 0,5 Prozent für kurzfristige Einlagen berechnet. Weil Sparer dadurch ein deutlich niedrigeres Zinseinkommen haben als noch vor einigen Jahren, wird in diesem Kontext häufig von der schleichenden "Enteignung der Sparer" durch die EZB gesprochen.

Diese These hält Martin Hellwig, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Direktor am Max-Planck-Institut, für brenzlig. "Sie ist irreführend, weil sie dem Sachverhalt nicht gerecht wird. Und sie ist gefährlich, weil sie für Sparer Ansprüche suggeriert, die mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht vereinbar sind", schreibt Hellwig in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ). 

Geschäftspolitische Entscheidung, keine Zwangsläufigkeit
Laut dem Ökonomen betreffen die von der EZB verhängten Niedrigzinsen zunächst einmal nicht die Privatkunden, sondern die Banken. Die Geldinstitute reichen diese nicht aus Zwang, sondern aus eigenem Antrieb weiter. Die Befugnisse der EZB würden in der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der EZB aufgeführt. "Eine hoheitliche Regulierung der Zinssätze auf Kundeneinlagen bei Geschäftsbanken wird da nicht genannt. Die Befugnis zu einer solchen Regulierung hätte zusätzlich eingeführt werden können mit einem Zwei-Drittel-Mehrheitsbeschluss des EZB-Rats und der Zustimmung des Rats der Europäischen Union. Das ist aber bisher nicht geschehen", führt Hellwig in seinem Gastbeitrag aus

"Dass die Zinssätze für Kundeneinlagen im Ermessen der Geschäftsbanken liegen, sieht man daran, dass verschiedene Geschäftsbanken unterschiedliche Zinssätze setzen", so Hellwig. Zwar würden die Rahmenbedingungen der EZB die Angebote beeinflussen. "Aber es gibt da keine Automatismen", sagt der Ökonom. Wenn Geschäftsbanken schlechte Konditionen bieten, läge das vor allem daran, dass die Kunden ihnen das durchgehen lassen. "Vor dreißig Jahren, als die Marktzinsen bei acht Prozent lagen, die Sparzinsen aber nur bei vier, ging das, weil der Preiswettbewerb zwischen den Instituten nicht gut funktionierte. Heute funktioniert er besser, aber die Geschäftsbanken können gleichwohl mit Einlagenzinsen um null oder unter null arbeiten, weil es für die Kunden bei gleicher Sicherheit kaum bessere Anlagemöglichkeiten gibt." 

Falsche Vorstellungen
Hinzu komme, dass die EZB durch ihre Politik bloß die Nominalzinssätze auf bestimmte Titel bestimmen könne, so etwa die Geldmarktzinssätze oder die Zinssätze auf langfristige Anleihen. "Sie kann aber nicht die Realzinssätze bestimmen, also die Überschüsse der Nominalzinssätze über den Inflationsraten." Zur Erinnerung: Mitte der 1970er-Jahre lagen die Zinssätze auf langfristige sichere Anleihen bei acht bis zehn Prozent, die Inflationsraten dagegen bei fünf bis sieben Prozent, rechnet Hellwig vor. Die Realzinssätze vor Steuern waren mit drei bis vier Prozent demnach deutlich höher als heute. "Davon hatten allerdings die Sparer nicht viel, denn deren Einlagen wurden wie in anderen Jahren auch mit vier bis fünf Prozent verzinst." Dazu mussten die Zinseinkommen noch versteuert werden. "Die Realzinsen nach Steuern waren damals negativ, dies allerdings, ohne dass die Verfassungsrechtler sich der 'Enteignung der Sparer' angenommen hätten."

Die Formulierung suggeriere einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen Mindestzins. Das hält Hellwig für problematisch. "Die Vorgabe eines Mindestzinses – und sei er auch null – schädigt die Funktionsfähigkeit des Marktsystems." Dass die Zinsen, die die Finanzinstitute ihren Kunden anbieten, so niedrig sind, liege letztlich daran, dass die Anlagen, die die Finanzinstitute selbst tätigen, insgesamt nicht mehr die hohen Renditen früherer Jahre erbringen, zumindest, wenn man die Risiken gering halten will .(fp/ps)