Der US-amerikanische Ökonom Nouriel Roubini ist Professor an der zur New York University gehörenden "Stern School of Business" und Gründer und Vorsitzender von "Roubini Global Economics", einem Anbieter für Kapitalmarkt- und Wirtschaftsinformationen. Vor seiner Tätigkeit als Professor war er Berater des Finanzministeriums der Vereinigten Staaten. Lesen Sie im Anschluss seinen Original-Kommentar.


Seit Anfang des Jahres leidet die Weltwirtschaft unter einem erneuten Schub massiver Volatilität der Finanzmärkte, der von stark fallenden Preise für Aktien und andere riskante Anlagen geprägt ist. Dabei spielt eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle: Sorgen über eine harte Landung der chinesischen Wirtschaft; Unruhe über die Möglichkeit, das Wachstum in den Vereinigten Staaten könne pünktlich zur Zinserhöhung der Fed schwächer werden; Angst vor einem eskalierenden Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran; und Zeichen erheblicher Schwäche der globalen Nachfrage – darunter vor allem die fallenden Öl- und Rohstoffpreise.

Und es gibt noch mehr Einflüsse: Die fallenden Ölpreise – gemeinsam mit Marktilliquidität sowie dem Anstieg der Verschuldung der Energieunternehmen in den USA und der Regierungen der ölexportierenden Länder – wecken die Angst vor ernsthaften Kreditereignissen (Insolvenzen) und einer systemischen Krise der Kreditmärkte. Und dann sind da noch die scheinbar endlosen Sorgen über Europa. Während rechte und linke populistische Parteien auf dem ganzen Kontinent an Zulauf gewinnen, wird ein britischer Austritt (Brexit) aus der Europäischen Union immer wahrscheinlicher.

Verstärkt werden diese Risiken noch durch einige mittelfristige Trends in Zusammenhang mit dem dauerhaft schwachen Wachstum. In der Tat wird die Weltwirtschaft auch im Jahr 2016 in Bezug auf die Produktion, die Wirtschaftspolitik, die Inflation und das Verhalten der Vermögenspreise und Finanzmärkte von einer Neuen Abnormalität bestimmt werden.

Was genau ist es aber, das die heutige globale Wirtschaft abnormal macht?

Erstens ist das potenzielle Wachstum in den Industrie- und Schwellenländern deutlich zurückgegangen. Gründe dafür sind die Last hoher privater und öffentlicher Schulden, die schnelle Alterung (und damit höhere Ersparnisse und geringere Investitionen) sowie eine Vielzahl von Unsicherheiten, die die Kapitalinvestitionen blockieren. Darüber hinaus konnten viele technologische Innovationen nicht in höheres Produktivitätswachstum verwandelt werden. Die Einführung von Strukturreformen bleibt zögerlich, und die langwierige zyklische Stagnation hat die Grundlagen der Qualifikationen und des physischen Kapitals untergraben.

Zweitens war das tatsächliche Wachstum schwach und unterhalb seines potenziellen Trends. Ein Grund dafür ist der schmerzhafte Prozess des Schuldenabbaus – zuerst in den USA, dann in Europa und schließlich in den hoch verschuldeten Entwicklungs- und Schwellenländern.

Drittens ist die Wirtschaftspolitik – insbesondere die Geldpolitik – immer unkonventioneller geworden. Tatsächlich wurde die Grenze zwischen Geld- und Haushaltspolitik immer mehr aufgelöst. Wer hat vor zehn Jahren schon von Begriffen wie Nullzinspolitik, quantitative Lockerung, Krediterleichterung, vorausschauende Zielsetzung, negative Einlagenzinsen oder unsterilisierte FX-Interventionen gehört? Niemand, denn damals existierten sie noch nicht.

Aber heute sind diese unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen in den meisten Industriestaaten die Norm – und sogar in einigen Schwellenländern. Und die jüngsten Aktionen und Signale der Europäischen Zentralbank und der Bank von Japan lassen vermuten, dass noch mehr solcher Maßnahmen zu erwarten sind.

Es gab Behauptungen, diese unkonventionelle Geldpolitik – und die daraus resultierende Aufblähung der Zentralbankbilanzen – sei eine Form der Entwertung von Fiat-Währungen. Die Folge, so wurde argumentiert, seien unkontrollierte Preissteigerungen (oder gar Hyperinflation), stark steigende Langfristzinsen, ein Zusammenbruch des US-Dollar, explodierende Preise für Gold und andere Rohstoffe sowie der Ersatz der entwerteten Fiat-Währungen durch Krypto-Währungen wie Bitcoin.

Statt dessen – und dies ist die vierte Anomalie – ist die Inflation trotz der unkonventionellen Maßnahmen und immer größeren Bilanzen der Zentralbanken immer noch zu gering und weiter fallend. Die Herausforderung für die Zentralbanken liegt nun darin, die Inflation anzukurbeln oder zumindest eine Deflation zu verhindern. Gleichzeitig sind die langfristigen Zinsen in den letzten Jahren immer weiter gesunken, der Wert des Dollar gestiegen und die Preise für Gold und Rohstoffe stark gefallen. Und Bitcoin hat sich 2014-2015 unter allen Währungen am schlechtesten entwickelt.

Der Grund für die immer noch extrem niedrige Inflation besteht darin, dass die traditionelle Kausalverbindung zwischen der Geldversorgung und den Preisen zerstört wurde. Teilweise liegt dies daran, dass die Banken die zusätzlichen Gelder in Form übermäßiger Reserven horten, anstatt sie zu verleihen (in ökonomischen Begriffen ausgedrückt hat sich die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes verlangsamt). Darüber hinaus bleibt die Arbeitslosigkeit weiterhin hoch und damit die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer gering. Und die Produktmärkte vieler Länder bleiben angesichts großer Produktionslücken und geringer Preismacht der Unternehmen weiterhin gelähmt (ein Problem zu hoher Kapazitäten, das durch chinesische Überinvestitionen noch verstärkt wird).

Und jetzt, nach einem massiven Rückgang der Immobilienpreise in Ländern, die einen starken Auf- und Abschwung erlebten, sind die Preise für Öl, Energie und andere Rohstoffe zusammengebrochen. Und dies ist die fünfte Anomalie – das Ergebnis der Verlangsamung in China, dem Überangebot an Energie und industriellen Metallen (nach erfolgreicher Exploration und Überinvestitionen in neue Kapazitäten), und des starken Dollars, der die Rohstoffpreise drückt.

Die weltweite Wertpapierblase aufgrund der QE verliert durch die aktuellen Marktturbulenzen langsam an Luft, könnte aber durch eine Ausweitung unkonventioneller Geldpolitik noch weiter aufrecht erhalten werden. Die Realwirtschaft in den meisten Industrie- und Schwellenländern ist ernsthaft krank, und trotzdem stiegen die Finanzmärkte mit der Unterstützung zusätzlicher Lockerungen durch die Zentralbanken in immer neue Höhen. Die Frage ist, wie lange Wall Street und Main Street noch auseinanderklaffen können.

Tatsächlich ist diese Abweichung ein Aspekt der letzten Abnormalität. Der andere ist, dass die Finanzmärkte, zumindest bis jetzt, ebenfalls kaum auf die wachsenden geopolitischen Risiken reagiert haben – auf die Zustände im Nahen Osten, Europas Identitätskrise, wachsende Spannungen in Asien und ein aggressiveres Russland. Wieder stellt sich die Frage, wie lange dieser Zustand – in dem die Märkte nicht nur die Realwirtschaft, sondern auch die politischen Risiken ignorieren – noch andauern kann?

Willkommen bei der Neuen Abnormalität des Wachstums, der Inflation, der Geldpolitik und der Vermögenspreise. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Es sieht so aus, als würden wir noch eine Weile hier bleiben.

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