Für manchen Ökonomen und Prognostiker ist das gegenwärtige Niedriginflationsumfeld ein Schlag ins Gesicht: Seit Jahren steigen Geldmengen und Liquidität ins Unermessliche, bewegen sich die Finanzierungszinsen auf extrem niedrigen und häufig sogar real negativen Niveaus und fallen die Arbeitslosequoten in Ländern wie den USA oder Deutschland auf Rekordtiefstände. Nur die Inflationsraten reagieren darauf nicht so wie in der Vergangenheit.

Zunächst wurde dies damit erklärt, dass die Weltwirtschaft unterausgelastet sei und die Schuldenniveaus so hoch, dass die sich erholende Nachfrage noch nicht preistreibend wirken könnte. Weiter wurde argumentiert, dass globale Wertschöpfungsketten und der technologische Wandel zu höherer Konkurrenz und geringerer Preissetzungsmacht der Unternehmen führen. Und da Globalisierung und technologischer Wandel sich kaum rückgängig machen lassen, schließen manche daraus, dass Zentralbanken niedrigere Inflationsraten einfach akzeptieren sollten.

Durch eine Abwärtsrevision ihrer Inflationsziele auf beispielsweise ein Prozent statt zwei Prozent wären die meisten Zentralbanken praktisch sofort am Ziel. Karsten Junius hält das aber für einen Irrweg: "Diese Argumentation spiegelt unserer Einschätzung nach vor allem den Wunsch wieder, dass Zentralbanken dann auch ihre extrem expansive Geldpolitik beenden könnten und die Leitzinsen nicht mehr im negativen Bereich liegen müssten", erläutert der Chefökonom der Bank J. Safra Sarasin

Schluss liegt weit daneben
Niedrigere Inflationsziele würden zu geringen Inflationserwartungen führen und damit zu höheren Realzinsen. Für die Investitionsnachfrage wäre das katastrophal. Niedrigere Inflationserwartungen würden auch zu geringeren Lohnabschlüssen beitragen. Belasten würde dies vor allem Kreditnehmer, die sich bei Eingang ihrer Finanzierungsverpflichtungen auf eine höhere Entwicklung des Lohn- und Preisniveaus verlassen haben.

Deflationsphasen führen daher in der Regel zu steigenden Kreditausfällen, unter denen Banken häufig leiden. "Generell sind niedrige Inflationsraten und Zinsen für Banken und Versicherungen schlecht", so Junius. Ersteren falle es sehr schwer, attraktive Margen zu verdienen, letztere können ihre Ertragsversprechen nicht mehr aufrechterhalten.

Stark gesunkene Lohnquote
Schließlich sei zu bedenken, dass die sogenannte Lohnquote – das ist der Anteil der Löhne an der gesamten Wertschöpfung – in den vergangenen Jahrzehnten stark gesunken ist. "Vor allem bei gering und durchschnittlich Qualifizierten ist dies der Fall gewesen. Kapitalgeber und Hochqualifizierte haben hingegen profitiert", so der Chefvolkswirt.

Niedrigere Inflationsziele bergen das Risiko, dass die zuletzt stagnierenden Gehälter breiter Bevölkerungsschichten zementiert würden. Wie wünschenswert das ist, ist kaum mehr eine ökonomische Frage, sondern in erster Linie eine politische. Junius dazu: "Zu beachten ist dabei, dass die Ressentiments gegen die Eliten, gegen die ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilung in vielen Ländern wie den USA und dem UK zu starken Gegenbewegungen und unerwarteten Abstimmungsergebnissen geführt haben. Geduld und Hartnäckigkeit beim Verfolgen bisheriger Inflationsziele, die dafür notwendige Niedrigzinsphase sowie höhere Lohnabschlüsse,könnten daher vielleicht doch die geringen Übel sein." (kb)