Der Schwarze Schwan steht für ein extrem gefährliches, aber auch extrem seltenes Ereignis, das in der Risikobetrachtung von Anlegern kaum eine Rolle spielt. Dabei sind solche Schwarzen Schwäne gar nicht mal so selten: "In der Praxis treten diese Extremereignisse mit verheerenden Folgen viel häufiger auf, als es viele Risikomodelle vermuten lassen", sagt Thomas Kößler, Anleihestratege bei der Schoellerbank.

Ob moderne Portfoliotheorie, Optionsbewertung oder andere Risikomodelle, sie alle ignorierten solche Situationen mehr oder weniger. Grund für dieses Ausblenden: "Es gibt kein statistisches Modell, das den Zufall auch nur annähernd zu erfassen vermag", sagt Kößler. In der Natur seien sehr große Abweichungen vom Durchschnitt tatsächlich so selten, dass sie vernachlässigbar sind und es sich auch nicht lohnt, eine Wahrnehmung dafür zu entwickeln. Finanzmärkte verfahren im Grunde genauso.

Klarer wird es, wenn man sich etwa die jährliche Indexveränderungen des Dow Jones Industrial Average Index (ohne Berücksichtigung der Dividenden) seit 1896 ansieht. Im Durchschnitt konnte ein Investor über die letzten 123 Jahre mit einer Jahresrendite von 7,65 Prozent rechnen. Rund um diesen Mittelwert tummeln sich auch die meisten tatsächlichen Jahresrenditen. Je weiter eine Jahresrendite von diesem Mittelwert abweicht, desto unwahrscheinlicher ist deren Auftreten. Bei einem Blick auf die statistischen Ränder offenbart sich jedoch ein Problem: "Jahresverluste zwischen 30 und 40 Prozent kommen in der Praxis wesentlich häufiger vor, als es die modellhafte Normalverteilung vermuten lässt", sagt Kößler. 

Verteilung der Jahresrenditen des Dow Jones Industrial Average Index seit 1896

Quelle: Schoellerbank

Auf Basis der Tageskursveränderungen im Dow Jones Industrial Average zeige sich die massive Kluft zwischen Theorie und Realität noch viel deutlicher: Verluste von mehr als fünf Prozent treten modelltheoretisch nur alle 964 Jahre auf – in der Praxis belästigten sie Anleger seit 1896 jedoch alle 1,5 Jahre! "Tagesverluste von mehr als zehn Prozent hätte es gemäß Normalverteilung seit Menschengedenken noch gar nie geben dürfen. In der Vergangenheit dauerte es im Schnitt jedoch nur gut 20 Jahre, bis ein solches Extremereignis auftrat. Als bittere Erkenntnis bleibt die Tatsache, dass der Schwarze Schwan auch an den Börsen regelmäßiger vorbeischaut, als es dem Investor lieb ist", fasst Kößler zusammen.

Größte Gefahr: In Panik dem Herdentrieb folgen
Aktueller Aufhänger für Kößlers Betrachtung ist das Coronavirus, das durchaus zu einem Schwarzer-Schwan-Ereignis werden könnte. Aus Sicht von Kößler ist das aber kein Grund zur Panik: "Der Versuch, die besten Börsentage zu prognostizieren, ist ein absolut hoffnungsloses Unterfangen. Ebenso hoffnungslos erscheint der Versuch, schwarze Schwäne zu identifizieren". Kößler rät stattdessen, bei einem Kursrutsch kühlen Kopf zu bewahren und dauerhaft in qualitativ hochwertige Unternehmen zu investieren: "Mit Blick auf das eigene Depot erscheint in der Retrospektive der böse Schwarze Schwan, der bereits wieder vorübergezogen ist, dann vielleicht sogar nur mehr etwas gräulich." (fp)