Wenn Ökonomen die Äußerungen aus der Chefetage der Europäischen Zentralbank (EZB) nach Hinweisen zur künftigen Richtung der Zinsen durchforsten, ist Christine Lagarde nicht die erste, auf die sie achten. Lediglich 40 Prozent der Teilnehmer haben bei einer Umfrage des Finanznachrichtendienstes "Bloomberg" angegeben, dass die EZB-Präsidentin zu den beiden wichtigsten Direktoriumsmitgliedern gehört, die sie bei ihrer Meinungsbildung berücksichtigen. Die meisten hören lieber auf Isabel Schnabel, die für die Märkte zuständige Deutsche. An zweiter Stelle folgt Chefvolkswirt Philip Lane aus Irland.

"Bloomberg" hat vom 5. bis zum 10. Juli insgesamt 25 Ökonomen befragt. Sie wurden gebeten, ihre beiden wichtigsten Direktoriumsmitglieder und ihre drei wichtigsten nationalen Notenbank-Gouverneure zu nennen. Die sechs Mitglieder des Direktoriums und die 20 Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten des Euroraums bilden den EZB-Rat, das oberste Beschlussorgan der EZB.

Unter den Chefs der nationalen Zentralbanken der Eurozone widmen die Wirtschaftsexperten dem Franzosen François Villeroy de Galhau die meiste Zeit. An zweiter Stelle folgt sein niederländischer Amtskollege Klaas Knot, der von einigen als möglicher Nachfolger Lagardes gehandelt wird. An dritter Stelle folgt Bundesbankpräsident Joachim Nagel.

Die 26 Mitglieder des EZB-Rats äußern sich häufig und mit unterschiedlichen Ansichten. Da ist es wichtig zu wissen, wer am nächsten am Puls der Zeit ist. Vor allem, wenn sich die Geldpolitik so stark verändert wie derzeit: Die EZB hat gerade begonnen, eine Serie von Zinserhöhungen zur Inflationsbekämpfung rückgängig zu machen. Über ihr weiteres Vorgehen hält sie sich bedeckt.

Unterschiede zwischen Lagarde und ihren Vorgängern
Präsidentin Lagarde kam als ehemalige französische Finanzministerin und Chefin des Internationalen Währungsfonds ohne Zentralbankerfahrung zur EZB. Die Umfrageergebnisse zeigen, dass ihre Rolle daher anders wahrgenommen wird als die ihrer Vorgänger. Sie agiert meist als Vorsitzende, die den Konsens sucht. Jean-Claude Trichet hingegen bestand darauf, Sprecher des EZB-Rats zu sein, und Mario Draghi legte geldpolitische Entscheidungen oft im Alleingang fest.

"Lagardes Reden sind sehr wichtig, aber sie erfassen keine Wendepunkte als solche oder Veränderungen der Signale", sagt Piet Haines Christiansen, Chefstratege bei der Danske Bank. "Während ihrer Amtszeit haben Schnabel und Lane die Rolle übernommen, starke analytische Argumente für den geldpolitischen Kurs zu liefern."

Favoriten unter den nationalen Notenbank-Chefs
Nach der Zinssenkung im vergangenen Monat haben einige Zentralbanker ihre geldpolitischen Vorstellungen für die zweite Jahreshälfte erläutert. Knot und Nagel, die zu den Favoriten der Ökonomen gehören, waren wenig präzise. Ersterer schloss sich lediglich den Marktwetten auf eine oder zwei Zinssenkungen an, während Letzterer betonte, dass die EZB nach dem ersten Schritt nicht auf Autopilot geschaltet habe.

"Unter den nationalen Ratsmitgliedern ist Herr Knot meine erste Wahl", sagt Kristian Tödtmann, Ökonom bei der Dekabank. "Er gehört eindeutig zum Lager der Falken, aber seine Ansichten sind gut begründet und argumentierbar. Seine Einschätzung, dass die Geldpolitik auch nach einigen weiteren Zinssenkungen restriktiv bleiben würde, ist ein gutes Beispiel dafür." Wegen des Gewichts der Bundesbank ist Nagel Tödtmanns Nummer zwei, gefolgt von Villeroy wegen seiner zentristischen Ansichten.

Die Mitglieder des EZB-Direktoriums neigen dazu, ihre persönliche Haltung weniger offen darzulegen als die Chefs der nationalen Zentralbanken. Auch wenn weder Lane noch Schnabel konkrete Angaben zu den Zinssätzen in diesem Jahr gemacht haben, werden ihre Äußerungen dennoch aufmerksam verfolgt.

Lane neigt dazu, sich bei seinen öffentlichen Auftritten auf detaillierte Erklärungen zum Zustand der Wirtschaft des Eurogebiets zu konzentrieren. Dabei bedient er sich oft einer akademischen Sprache, die Argumente schwer verständlich machen kann. Er war in die Kritik geraten, als die von ihm verantworteten EZB-Prognosen das Ausmaß des Inflationsschubs in der Region unterschätzt hatten. Dann hatte er zu lange behauptet, der Schock sei nur vorübergehend.

"Gegensätze" im EZB-Direktorium
Schnabel gibt oft die Agenda für die kommenden Herausforderungen vor. Sie war die erste, die gründlich erörterte, wie die EZB ihre Bilanz nutzen und die Zinssätze in der neuen Normalität steuern kann. Sie erklärte auch, wie sich der Klimawandel und die grüne Transformation auf die Inflation auswirken werden. Allerdings hatte auch sie mit ihrer Einschätzung der Wirtschaftslage falschgelegen und bis Dezember vorigen Jahres an der Option einer weiteren Zinserhöhung festgehalten. Einige Kollegen hatten sich unterdessen gefragt, ob die EZB nicht schon zu weit gegangen war. Analysten und Märkte hatten zu diesem Zeitpunkt bereits eine erste Zinssenkung anvisiert.

Für Dekabank-Ökonom Tödtmann sind Lane und Schnabel "Gegensätze". Er sagt, es sei daher aufschlussreich, die Ansichten der beiden zu vergleichen. (Bloomberg/ohm)