Bewertet man Aktienkurse auf Basis laufender Gewinne, dann haben sich die Bewertungen in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. In den Industrieländern liegen die Kurs-Gewinn-Verhältnisse inzwischen insgesamt oberhalb der historischen Durchschnittswerte. Benjardin Gärtner, Leiter Portfoliomanagement Aktienbei Union Investment, hält das aber nicht für ein Anzeichen von Überhitzung. Im Gegenteil: Der historische Vergleich hinkt aus seiner Sicht, weil die anhaltenden Niedrigzinsen für "höhere strukturelle Bewertungsniveaus" sorgen.

"Gängige Bewertungsbänder, in denen sich Aktien bewegen, haben sich verschoben", schreibt Gärtner in einer aktuellen Analyse: "Eine Aktie, die noch vor zehn Jahren mit einem KGV von 25 gnadenlos überteuert gewesen wäre, könnte heute fast als Schnäppchen durchgehen – vorausgesetzt, alle anderen Charakteristika des Unternehmens, also Geschäftsmodell, Bilanz und Wachstumsperspektiven, genügen höchsten Ansprüchen."

Niedrigzins erhöht die Profitabilität
Die populäre Bewertungskennziffer hat längst nicht ausgedient. Gleich mehrere Faktoren rechtfertigten höhere KGV-Niveaus: Erstens fehlten Anlegern im Zinstief vielfach die Alternativen, so dass die Aktiennachfrage generell gestiegen sei. Zweitens könnten sich die Unternehmen billiger refinanzieren und ihre Profitabilität wegen der geringeren Kapitalkosten steigern. Drittens seien auch Akquisitionen anderer Unternehmen günstiger als in Zeiten höherer Zinsniveaus. "Das schlägt sich in einer eher statischen Bewertungskennziffer wie dem KGV aber nur indirekt nieder", betont Gärtner.

Er plädiert dafür, die KGVs auch im Lichte der Bewertung alternativer Anlageklassen zu betrachten. Ein Beispiel: Vor zehn Jahren lag das KGV der Dax-Unternehmen bei 12,2, während zehnjährige Bundesanleihen gemessen an den Zinserträgen für Anleger auf ein KGV von 25 kamen. Fünf Jahre später lag das Dax-KGV im Schnitt bei zehn, das bei Anleihen bei 33. Heute sind es 14 beim Dax, und gemessen an Anleihe-Renditen von weniger als 0,1 Prozent über 1000 bei Bonds. Auch die Bewertungen am Immobilienmarkt seien inzwischen so hoch, dass Aktien im Vergleich nicht wirklich teuer erschienen: "Die Frage, ob eine Aktie zu teuer ist oder nicht, richtet sich aktuell also weniger nach ihrem historischen KGV, sondern nach der Bewertung anderer Anlageklassen."

Einzeltitelanalyse wichtiger als KGV-Vergleich
Abgesehen von Kennzahlenanalysen bleibe es stets notwendig, die Qualität einzelner Unternehmen zu bewerten: "Ein Topunternehmen zeichnet sich dadurch aus, dass es durch den Zyklus hindurch wächst und Cash generiert – als Dividende ebenso wie als Barreserve, um Wachstum zu finanzieren." Ein vergleichsweise hohes KGV sollte für solche Titel kein Hindernis darstellen. (fp)