Nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales haben rund 70 Prozent der 25- bis 64-Jährigen in Deutschland eine zusätzliche Altersversorgung. Bei 40 Prozent von ihnen resultiert die Zusatzrente aus bAV-Ansprüchen. Laut Datenanbieter Statista belief sich zum Jahresende 2015 die Anzahl der Verträge in der betrieblichen Altersversorgung auf rund 15 Millionen Stück. Auf Platz eins thront mit weitem Abstand der Durchführungsweg Direktversicherung mit gut 7,7 Millionen Verträgen, gefolgt von Rückdeckungsversicherungen, Pensionskassen und Pensionsfonds. Ein Erfolgsmodell also?

Kommt ganz darauf an, warnt Norbert Müller, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Premium BAV in Schwetzingen. Wegen vielfältiger Vorteile setzt sein Unternehmen insbesondere auf die beiden nicht-versicherungsorientierten bAV-Durchführungswege Direktzusage und Unterstützungskasse. Vom Gesetzgeber, der die betriebliche Altersversorgung modernisieren möchte, erhofft sich Müller eine Stärkung der versicherungsfremden bAV-Durchführungswege.


Herr Müller, in welcher Verfassung ist das deutsche Betriebsrentensystem?

Norbert Müller: Bei der bAV könnte man fast sagen: Totgesagte leben länger. In den großen Betrieben ist die bAV meist Standard, je kleiner die Firmen sind, umso geringer ist die Durchdringung. Gleichzeitig haben die Versicherer die betriebliche Altersvorsorge als das Beratungsfeld schlechthin für sich erkannt, da im privaten Bereich kaum noch Lebens- oder Rentenversicherungen abgeschlossen werden. Und hier wird dann vom Vertrieb mit den Steuer- und Sozialversicherungsvorteilen geworben. Insbesondere bei versicherungsgestützten Durchführungswegen aber befindet sich die bAV teils in einer desaströsen und völlig intransparenten Verfassung.

Wo sehen Sie die Ursachen dafür?

Müller: Die nahezu hundertprozentige Rückdeckung der Zusagen über Versicherungsprodukte. Seit nunmehr 30 Jahren sinkt deren Verzinsung. Lange konnte man davon ausgehen, dass absolut betrachtet mehr aus den Verträgen ausbezahlt wird als eingezahlt wurde. Dieses an sich positive Verhältnis kippt nun ins Negative. Betrachtet man heute die Nettoauszahlung aus den bAV-Verträgen nach Steuer und Krankenversicherung im Vergleich zu den Einzahlungen, hat man teils jetzt schon ein negatives Ergebnis.

Hat der Gesetzgeber Fehler gemacht?

Müller: Ja, zweifellos. Etwa durch die stufenweise Verschlechterung der Förderung. So wurden bei den alten 40b-Verträgen die Pauschalsteuern schrittweise von acht auf schließlich 20 Prozent erhöht. Überdies wurden Sozialversicherungsvorteile nur noch gewährt, wenn die Beiträge aus Sonderzahlungen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld erbracht wurden. Als jene Sonderzahlungen in vielen Betrieben Mitte der 1990er Jahre wegfielen, führte dies zu Stornierungen zahlreicher bAV-Verträge. Überdies wurde die komplette nachgelagerte Leistungsbesteuerung eingeführt und schließlich mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung die Sozialversicherungspflicht aller Leistungen. Folge: Über Versicherungen refinanzierte Betriebsrenten sind nicht mehr rentierlich, da nach Abzug aller Kosten, Steuern und Sozialversicherungsabgaben weniger rauskommt als eingezahlt wurde.

Hat nicht der Vertrieb ebenfalls Fehler gemacht?

Müller: Ja, ohne Zweifel. Versicherungslösungen waren auf den ersten Blick die einfachsten und besonders praktikablen bAV-Konzepte. Deshalb hatte der Vertrieb praktisch keinen Grund, alternative Lösungen zu suchen und anzubieten. Bank- und versicherungsgebundene Vertriebe konnten und können bis heute ohnehin keine versicherungsfreien Versorgungssysteme realisieren.

Ist die bAV deshalb mittlerweile ein Sanierungsfall?

Müller: Auf diese Frage gibt es keine pauschale Antwort. Ausschlaggebend ist, wie die betriebliche Altersversorgung arbeitsrechtlich und folglich auch steuerrechtlich gestaltet wurde und wird. Leider treffen wir immer häufiger auf unternehmerische Versorgungswerke mit großem Sanierungsbedarf. Eine zeitnahe Überprüfung bestehender bAV-Konzepte und deren Sanierung können da überlebenswichtig sein.

Wo liegen die Risiken in der jetzigen bAV-Systematik insbesondere für mittelständische Unternehmen?

Müller: Das wohl größte Risiko besteht darin, dass die arbeitsrechtlich erteilten Zusagen und die gewählten Refinanzierungssysteme nicht aufeinander abgestimmt sind. Bekanntlich sind die Arbeitnehmerrechte zu hundert Prozent durch den Gesetzgeber vorgegeben und geschützt. Folge: Der Arbeitgeber muss gegenüber seinen Arbeitnehmern hundertprozentig für die Betriebsrentenzusagen haften. Das gilt auch dann, wenn die Refinanzierung nicht oder nur zu einem Teil funktioniert. Angesichts der aktuellen Hiobsbotschaften aus der Versicherungswirtschaft steht zu befürchten, dass künftig enorme Ansprüche auf die Arbeitgeber zukommen werden. Bei versicherungsfreien bAV-Lösungen haben die Arbeitgeber zwar auch die gleiche Leistungsverpflichtung, doch hier können sie jederzeit gemeinsam mit dem Berater in die Kapitaleinlagen eingreifen und sie aktuellen Gegebenheiten anpassen. Dies ist ein wesentlicher und entscheidender Vorteil der versicherungsfreien Systeme!

Könnten Sie einige Details zu den eben genannten Risiken für Arbeitgeber nennen?

Müller: Oft hat ein Unternehmen Leistungszusagen erteilt, die zum Zeitpunkt des Ablaufs die prognostizierten, aber nicht garantierten Gewinnanteile einer bAV-Versicherungslösung beinhalten. Häufig werden BU-Renten mit abgesichert, ohne dass die Definition der Berufsunfähigkeit an sich mit dem Tarifwerk der Versicherung im Hintergrund abgestimmt ist. Bisweilen werden insbesondere im Bereich der Gesellschafter und Geschäftsführer einzelne Aspekte aus dem Betriebsrentengesetz und einzelvertragliche Lösungen miteinander vermischt. Das alles kann fatale Folgen für eine Firma haben.

Was halten Sie von der Absicht des Gesetzgebers, die Entgeltumwandlungs-Höchstgrenze in der bAV auf sieben Prozent der Beitragsbemessungsgrenze zur gesetzlichen Rentenversicherung zu erhöhen?

Müller: Das scheint auf den ersten Blick sehr sinnvoll, geht aber nicht komplett in die richtige Richtung. Denn bei versicherungsfreien bAV-Konzepten gibt es bereits heute keine steuerlichen Höchstgrenzen für den Aufbau einer Betriebsrente. Insbesondere Besserverdienende und Gesellschafter-Geschäftsführer, aber auch alle anderen Arbeitnehmer können steuerlich nahezu unbegrenzt Gehaltsbestandteile in die betriebliche Altersvorsorge umwandeln. Das Arbeitsministerium und das Finanzministerium wollen mit der Förderanhebung erreichen, dass die Durchdringung der bAV in kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie bei Geringverdienenden verbessert wird. Da aber heute schon das Vertrauen in bAV-Versicherungslösungen spürbar schwindet, würde selbst eine verbesserte steuerliche Förderung kaum dazu beitragen, Vertrauen wieder aufzubauen.

Nochmals zum Thema Risiken. Welche sehen Sie für den Vertrieb und insbesondere für Arbeitnehmer?

Müller: Für den Vertrieb und die Berater ist eines der Hauptrisiken die Haftung für empfohlene und realisierte Versorgungswerke und die daraus entstehenden Finanzierungslücken. Der Berater muss notgedrungen auf sämtliche arbeitsrechtliche, steuerrechtliche und die Refinanzierungsrisiken hinweisen. Falls er dies nicht tut, muss er im Zweifel haften wegen mangelnder Aufklärung und Dokumentation. Risiken für Arbeitnehmer sehe ich hier nicht, da deren Ansprüche durch das Betriebsrentengesetz geschützt sind. Heißt also: Die Haftung für Versorgungslücken fällt zunächst auf den Arbeitgeber zurück, der sich dann im Schadensfall auf seine Berater konzentriert.

Wenn Sie die bAV umgestalten könnten: Was würden Sie tun?

Müller: Unsere Landschaft der betrieblichen Altersversorgung muss nicht umgestaltet werden, alle Lösungen sind vorhanden. Man muss den Menschen halt besser als bislang erklären, wie Erträge im gewerblichen Bereich entstehen und wie genau diese Erträge auch für die betriebliche Altersvorsorge eingesetzt werden können. Ein Schwerpunkt der Kommunikation sollten die enormen Chancen sein, sobald Gewinne und Erträge wieder einem Unternehmen zugeführt werden, um als Produktivkapital die Wirtschaft als Ganzes und die Firma im Besonderen zu stärken. Eine Aufgabe ist es deshalb, Arbeitnehmer wieder viel stärker an ihre Unternehmen zu binden, zugleich die Unabhängigkeit der Firmen von Banken oder Fremdkapital zu vergrößern. Hier spielt die betriebliche Altersvorsorge eine sehr wichtige Rolle. (hh)