Der klassische Banküberfall am helllichten Tag hat längst ausgedient – er lohnt sich einfach nicht mehr. Geldautomaten zu sprengen ist weniger riskant und die Beute meist deutlich größer. Seit 2005 beobachtet das Bundeskriminalamt diese Art der Kriminalität mit erhöhter Aufmerksamkeit. Damals nahm das Phänomen europaweit zu. Aber nach zehn Jahren – im Herbst 2015 – sprang die Zahl der Angriffe in Deutschland extrem an. 2016 waren es mit 318 Angriffen bereits doppelt so viele wie im Vorjahr. Der vorläufige Höhepunkt wurde im Jahr 2022 mit 496 zerstörten Geräten erreicht.

"Geldautomaten-Sprengungen sehen wir auf der ganzen Welt. Die Intensität, die wir in Deutschland erfahren, ist im Vergleich mit anderen Ländern aber schon eine Liga für sich", sagt Stefan Lessmann, Sicherheitschef des Geldautomatenherstellers Diebold Nixdorf, dem Marktführer in der EU.

Niederländische Banden wechselten das Revier
Doch wie kam es zu dem plötzlichen Aufschwung? Deutschland grenzt an die Niederlande. Und dort – vor allem in Amsterdam und Utrecht – haben sich Netzwerke krimineller Gruppen gebildet, die diese Anschläge über die Jahre perfektioniert haben. Die Niederlande waren dementsprechend lange das Epizentrum der Geldautomaten-Sprengungen. Im Jahr 2015 ergriff man deshalb drastische Schritte: Die Zahl der Geldautomaten wurde von 20.000 auf 5.000 reduziert. Die übriggebliebenen Geräte wurde hochgerüstet und das Land überzeugte seine Bürger, sich vom Bargeld zu verabschieden.

Für die Täter gab es im eigenen Land nicht mehr viel zu holen, sie zogen weiter, Richtung Osten. Hier fanden sie ein Paradies vor: In Deutschland, wo laut Bundesbank Bargeld eine "besondere gesellschaftliche Rolle" hat, stehen mehr als 50.000 Geldautomaten. Die große Mehrheit der 83,8 Millionen Einwohner müsse nicht mehr als einen Kilometer zurücklegen, um den nächsten Geldautomaten zu erreichen.

Föderalismus spielt Tätern in die Hände
Diese flächendeckende Infrastruktur lockt Täter an. Hinzu kommt das gut ausgebaute Autobahnnetz, das es erlaubt, schnell aus den Niederlanden anzureisen und genauso flott wieder über die Grenze zu flüchten.

Auch der deutsche Föderalismus spielt den Kriminellen in die Hände: In den Niederlanden gibt es nur vier verschiedene Bankhäuser, in Deutschland ist der Sektor mit Hunderten von Sparkassen und Banken fast unüberschaubar. Hinzu kommt, dass jedes der 16 Bundesländer seine eigene Polizei hat, was länderübergreifende Ermittlungen nicht leichter macht.

Achim Schmitz, Abteilungsleiter im Landeskriminalamt Düsseldorf, befasst sich schon lange mit dem Phänomen. Nordrhein-Westfalen war das erste Bundesland, das damit zu kämpfen hatte. Schmitz und seine Kollegen haben im Laufe der Jahre Hunderte von Tätern gefasst und sie zu hohen Haftstrafen verurteilt. "Unser erster Ermittlungsansatz im Jahr 2015 war, dass es hier einen bestimmten Täterkreis gibt, und wenn wir die Kerngruppe schnappen, sind wir das Problem bald los", so Schmitz. "Schon vor langer, langer Zeit, mussten wir diese Arbeitshypothese aber aufgeben."

Höhere Strafen zur Abschreckung
Stattdessen beobachteten die LKA-Beamten einen scheinbar nie endenden Strom junger Männer, die in hochspezialisierten Teams für die Spreng-Einsätze ausgebildet werden und nachrücken, sobald ihre Vorgänger gefasst sind. Die meisten sind niederländische Staatsbürger marokkanischer Abstammung.

Im Juli kündigte das Bundesjustizministerium an, Haftstrafen für solche Taten auf mindestens zwei bis 15 Jahre zu erhöhen und den Ermittlern zu ermöglichen, die Telekommunikation der Täter zu überwachen. Auch die Strafverfolgungsbehörden versuchen, die Bußen zu erhöhen. Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main hat im Mai erstmals Täter wegen versuchten Mordes angeklagt, weil bei den Explosionen nie auszuschließen sei, dass etwa Anwohner getötet werden. Theoretisch kann dafür eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt werden.

Nachlässige Banken?
In Ermittlerkreisen rumort es. Viele sind der Meinung, dass die Banken nicht genug tun, um diese Taten zu verhindern. Im Jahr 2022 lud das Bundesinnenministerium Vertreter der Finanzwirtschaft, der Bundesbank und der Polizeibehörden zu einem Runden Tisch ein, um über Maßnahmen zu beraten. Man einigte sich auf Empfehlungen – etwa Geldautomaten nachzurüsten oder von Risikostandorten ganz abzuziehen. Gesetzliche Pflichten blieben den Banken erspart.

Das Bundeskriminalamt hat noch keine bundesweiten Daten für das Jahr 2023 vorgelegt, aber einige Landeskriminalämter beobachten, dass die Zahlen inzwischen leicht rückläufig sind. Das Bundesinnenministerium will 2025 prüfen, ob mehr getan werden muss.

Laut Deutschem Sparkassen- und Giroverband hat die Finanzindustrie in den vergangenen Jahren mehr als 300 Millionen Euro in Alarmsysteme und Abwehrtechnik investiert. Nachts sind Geldautomaten-Foyers inzwischen meist geschlossen und in den Geräten wird weniger Geld gelagert.

Täter sind meist einen Schritt voraus
Doch es bleibt beim Wettrüsten zwischen dem organisierten Verbrechen und den Banken. Als Geldautomatenräume mit Nebelsystemen ausgestattet wurden, die bei einem Angriff alles mit einem blickdichten Rauch füllen, konterten die Täter mit Laubbläsern. Als Geräte gepanzert wurden, stiegen sie von Gas- auf Festsprengstoff um. Laut Bundeskriminalamt liegt die Erfolgsquote bei den Überfällen inzwischen bei etwa 60 Prozent.

"Wir wissen nicht, welche Taktik sich die Täter morgen einfallen lassen werden", so Lessmann. "Wir können keine Automaten entwickeln, die 100 Prozent sicher sind – hier gibt es Grenzen, sowohl physikalisch, als auch, was die entstehenden Kosten betrifft."

Jede Maßnahme hat zudem Nebenwirkungen. Färbe- oder Klebesysteme machen die Scheine unbrauchbar. Die Bundesbank ersetzt den Banken zwar das Geld, doch die große Mehrheit der kaputten Scheine stammt aus Fehlalarmen — und für diese Fälle, anders als bei fehlgeschlagen Angriffen, erhebt die Bundesbank eine Gebühr. Im Jahr 2023 reichten Banken deutschlandweit rund 500.000 Scheine ein, die bei Fehlalarmen eingefärbt wurden. Die Bundesbank wollte den Wert dieser Scheine nicht nennen.

Abbau von Geldautomaten als Ultima Ratio
Einen Königsweg gibt es ohnehin nicht. Die Banken haben Geräte in Beton eingefriedet, Außenpavillons gebaut und Rear-Feeder installiert, die das Bargeld in einem getrennten Raum lagern. Wenn aber ein Anschlag erst einmal eine Filiale zerstört hat, geben die Banken nicht selten auf und schließen den Standort. Vermieter sind nicht gerade erpicht darauf, an Kreditinstitute mit Geldautomaten zu vermieten, vor allem, wenn sich im selben Haus Wohnungen befinden.

"Wenn zu erwarten ist, dass sich die Situation auch durch das Ausschöpfen der Sicherungsmaßnahmen nicht bessert, kann ein Abbau von Geldautomaten die Ultima Ratio sein", so der Deutsche Sparkassen- und Giroverband. "Das ist sicherlich nicht populär, aber alternativlos, wenn Gefahr für Leib und Leben Dritter besteht."

Erfolgreicher Einsatz von digitalen Werkzeugen
Die anfangs am stärksten betroffenen Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen haben viel gegen die Taten unternommen. Ein Schlüssel zum Erfolg war zum Beispiel der Einsatz digitaler Werkzeuge, die es ermöglichen, die Täter nahezu in Echtzeit zu verfolgen. Das hat die Täter inzwischen in den Süden, in die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg, und sogar nach Österreich und in die Schweiz getrieben. In den letzten Monaten hat die Region um Basel eine Welle von Anschlägen erlebt.

Jens Burrichter kümmert sich seit 2015 bei der niedersächsischen Polizei um das Phänomen Geldautomaten-Sprengungen. Zwei Jahre lang war er bei Europol in Den Haag tätig, wo er internationale Konferenzen organisierte und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizei in ganz Europa koordinierte.

"Wir werden die Menschen nicht ändern können"
Wie viele seiner Kollegen ist sich Burrichter sicher, dass Deutschland von den Niederlanden lernen sollte: Man müsse die Zahl der Geldautomaten und das Bargeld insgesamt drastisch reduzieren. Aber er weiß auch, dass niemand in Deutschland mit solchen Forderungen Wahlen gewinnt. "Wir werden nicht alles ändern können, wir werden die Menschen nicht ändern können", sagt Burrichter. "Mein Vater ist 70 Jahre alt. Er wird nicht mehr auf die Karte umsteigen, um beim Bäcker sein Brot zu bezahlen." (mb/Bloomberg)