Das Hessische Landesarbeitsgericht in Frankfurt muss in wenigen Tagen eine schwierige Frage beantworten: War ein langjähriger Vermittler der Deutschen Vermögensberatung (DVAG) gar nicht als selbstständiger Handelsvertreter tätig, sondern abhängig beschäftigt? Die mündliche Verhandlung ist auf Mittwoch, 17. April, 13 Uhr, terminiert. Bejahen die Richter die Frage, kann der ehemalige Vermögensberater versuchen, seine Forderungen gegen den Finanzvertrieb vor dem Arbeitsgericht durchzusetzen – er fühlt sich insbesondere mit Blick auf seine Altersregelung ungerecht behandelt. Aber auch über diesen Einzelfall hinaus kann der Gerichtsentscheid Signalwirkung für aktuelle und ehemalige Vermögensberater entfalten. Jüngsten Angaben zufolge arbeiten rund 18.000 Vermittler hauptberuflich für die DVAG.

"Scheinselbstständigkeit ist ein ernstes Risiko für Finanzvertriebe", sagte Maximilian Lachmann, Partner der Heidelberger Arbeitsrechtsboutique Reiserer Baade Lachmann, jüngst unabhängig vom aktuellen Fall im Interview mit FONDS professionell ONLINE. Die wirtschaftlich erheblichsten Konsequenzen sind dabei nicht arbeits-, sondern sozialversicherungsrechtlicher Natur. Stellt die Deutsche Rentenversicherung fest, dass ein Unternehmen Scheinselbstständige beschäftigte, muss die Firma für mehrere Jahre Pflichtbeiträge zur Renten-, Arbeitslosen-, Pflege- und Krankenversicherung nachzahlen, hinzu kommt ein Säumniszuschlag.

Früher bezeichnete die DVAG ihre Vermögensberater als "Mitarbeiter"
Der Arbeitsalltag der DVAG-Vermittler wirkt auf den ersten Blick tatsächlich nicht so, wie sich ein Laie eine klassische Selbstständigkeit vorstellt: Sie sind beispielsweise nicht frei in der Wahl der Produkte, die sie vertreiben. Sie dürfen auch nicht für andere Auftraggeber tätig werden. Im Vermögensberater-Vertrag heißt es, sie hätten "jede Tätigkeit für ein Konkurrenzunternehmen oder die Vermittlung von Vermögensanlagen, die nicht zur Produktpalette der Gesellschaft gehören, (…) zu unterlassen".

Die DVAG stellt ihren Vertretern die wichtigsten Arbeitsmaterialien zur Verfügung, vom E-Mail-Account über die Beratungs-IT und Werbematerialien bis hin zur Visitenkarte. Eigene Software für die Kundenberatung oder -verwaltung dürfen die Vermögensberater nicht nutzen. Viele Schulungen sind verpflichtend, dort lernen die Vermittler auch, wie sie gegenüber den Kunden auftreten sollen und wie sie anzusprechen sind. Sprich: In ihrer Außendarstellung sind die Vermögensberater Teil des Unternehmens. Früher bezeichnete die DVAG die Vermögensberater in firmeninternen Unterlagen, die FONDS professionell ONLINE vorliegen, sogar als "Mitarbeiter". Diesen Begriff verwendet die Gesellschaft seit einigen Jahren allerdings nicht mehr.

"Schon fast der Klassiker für die Annahme der Scheinselbstständigkeit"
Wenn Heinz-Dietrich Steinmeyer, bis 2017 Inhaber des Lehrstuhls für Sozialrecht und Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht an der Universität Münster, von einer solchen Konstellation hört, kommt er recht schnell zu einem eindeutigen Schluss: "Das ist schon fast der Klassiker für die Annahme der Scheinselbstständigkeit", meint der emeritierte Rechtsprofessor. Er ist sich recht sicher, dass ein Sozial- oder Arbeitsgericht in einem solchen Fall eine Arbeitnehmereigenschaft annehmen würde. Steinmeyer betont aber auch, dass es immer auf den konkreten Einzelfall ankommt.

"Nach der Rechtsprechung richtet sich die Einordnung eines Mitarbeiters als Angestellter oder als selbstständiger Handelsvertreter regelmäßig nach der Gesamtwürdigung aller Umstände, insbesondere dem Gesamtbild der vertraglichen Gestaltung und deren Handhabung in der Praxis", sagt auch Jens Reichow, Partner der Hamburger Kanzlei Jöhnke & Reichow (externer Link). "Eine starke Eingebundenheit in die Unternehmensstruktur des Vertriebsunternehmers kann dabei schon ein gewichtiges Kriterium zugunsten einer abhängigen Beschäftigung und mithin für eine Angestelltentätigkeit sein. Andererseits stellt sich auch die Frage, in welchem Umfang die fraglichen Mitarbeiter ein eigenes wirtschaftliches Risiko tragen. Soweit ein solches wirtschaftliches Risiko infolge eines provisionsbasierten und abschlussorientierten Vergütungsmodells besteht, wäre dies sicherlich ein erhebliches Argument zugunsten einer selbstständigen Tätigkeit."

Erfolgreiche Vermögensberater verlieren einen guten Teil "ihrer" Strukturen
Viele der oben genannten Punkte treffen auch auf andere Finanzberatungsfirmen und Ausschließlichkeitsorganisationen von Versicherern zu. Bei der DVAG kommen jedoch einige Punkte hinzu, die ihrer Eigenschaft als Strukturvertrieb geschuldet sind. Wirbt ein Vermögensberater nämlich neue Vermittler an und baut so seine eigene "Struktur" auf, tut er das für die DVAG, nicht für sich selbst. Der Anwerber partizipiert zwar an den Provisionen der neuen Vertreter, vertraglich sind diese aber nur an die DVAG gebunden.

Schmerzlich zu spüren bekommen das mitunter ausgerechnet die erfolgreichsten Vermögensberater – diejenigen nämlich, die nicht nur selbst die oberste Karrierestufe des Direktionsleiters erreicht haben, sondern aus deren Direktion weitere Direktionen "nachgewachsen" sind. Der Leiter der sogenannten Stammdirektion verdient eigentlich an jedem Abschluss der nachgewachsenen Direktion mit, allerdings nur bis zu seinem 60. Lebensjahr oder – so sieht es eine Alternativregelung vor – für zehn Jahre. Sprich: Früher oder später verlieren erfolgreiche Direktionsleiter einen guten Teil der Strukturen, die sie (vermeintlich für sich, in Wahrheit aber für die DVAG) aufgebaut haben. Dass die DVAG die Vertriebsstrukturen als ihr Eigentum betrachtet, über das sie frei verfügen kann, zeigt auch der Umgang des Unternehmens mit ihnen: Im Februar berichtete FONDS professionell ONLINE über einen Vermittler, der erheblich davon profitierte, das ihm am konzerneigenen Karrieresystem vorbei zahlreiche Strukturen zugeschlüsselt wurden.

Weder Bestandsprovision noch Ausgleichsanspruch
Ein anderer in diesem Zusammenhang relevanter Aspekt: Üblicherweise erhalten selbstständige Versicherungsvermittler Bestandsprovisionen für die von ihnen vermittelten Versicherungsverträge. Bei den Vermögensberatern der DVAG ist das nicht der Fall. Sie erhalten nur Provisionen für den Abschluss und die Erhöhung einer Police. Die Bestandsprovisionen, die von den Produktgebern fließen, vereinnahmt ausschließlich die DVAG. Für unabhängige Versicherungsmakler sind die Bestandsprovisionen ein wichtiger Teil ihrer Altersvorsorge – sie können die erwarteten Einnahmen aus ihrem Bestand bei spezialisierten Dienstleistern sogar gegen eine "Maklerrente" eintauschen. (In FONDS professionell 1/2024 finden Sie ab Seite 254 einen Vergleich verschiedener Maklerrenten-Modelle; der Beitrag ist nach Anmeldung auch hier im E-Magazin abrufbar).

Bei Handelsvertretern geht das nicht, schließlich haben sie die Kunden nicht für ihr eigenes Unternehmen angeworben, sondern für ihren Auftraggeber. Deshalb steht Handelsvertretern, die sich zur Ruhe setzen oder ihren Vertrag aus anderen Gründen kündigen, üblicherweise ein sogenannter Ausgleichsanspruch zu. Der Vermögensberater-Vertrag der DVAG sieht dagegen keinen Ausgleichsanspruch vor. Stattdessen werden ein Versorgungswerk und weitere Sozialleistungen angeboten. Wird dennoch ein Ausgleichsanspruch geltend gemacht, behält sich die DVAG vor, die Erstattung der Aufwendungen für diese Leistungen zu verlangen. Aus Sicht einiger Anwälte spricht auch die Tatsache, dass die DVAG weder Bestandsprovisionen noch einen Ausgleichsanspruch zahlt, dagegen, dass die Vermögensberater als selbstständige Handelsvertreter anzusehen sind.

Die DVAG nennt vier Urteile – aber nicht zum eigentlichen Thema
Zeit also, bei der DVAG anzufragen, wie sie den Verdacht auf Scheinselbstständigkeit ihrer Vermögensberater einordnet. Die Pressestelle zeigt sich "irritiert" über die Anfrage von FONDS professionell ONLINE. Das Thema sei "hinreichend juristisch behandelt", so eine Mitarbeiterin der Unternehmenskommunikation. "Insbesondere das Bundessozialgericht, die Bundesanstalt für Arbeit, die Landesversicherungsanstalt Hessen sowie diverse Instanzgerichte haben festgestellt, dass es sich bei Vermögensberatern um selbstständige Handelsvertreter handelt."

Auf Nachfrage verweist die Pressestelle auf Urteile des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 10.5.2006, Az. B12 RA 2/05R), des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (LSG, Urteil vom 22.1.2016, Az. L 4 R 2796/15), des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urteil vom 9.6.2010, Az. 5 AZR 332/09) und des Bundesgerichtshofes (BGH, Urteil vom 8.3.2023, Az. 1 StR 188/22) – die Links unter den Aktenzeichen führen auf die entsprechenden Urteilstexte beim gemeinnützigen Portal "Openjur".

Das klingt nach relevanten Entscheidungen der höchsten Gerichte. Aber: Im genannten BGH-Urteil geht es um die Abgrenzung von scheinselbstständigen Rechtsanwälten und freien Mitarbeitern einer Rechtsanwaltskanzlei. Das LSG-Urteil behandelt den Handelsvertreter einer Druckerei. Beide Urteile beziehen sich erkennbar nicht auf Handelsvertreter der DVAG. Das trifft offensichtlich auch auf das erwähnte BAG-Urteil zu – in diesem Fall hatte ein Versicherer einen Versicherungsvertreter auf die Rückzahlung von Provisionsvorschüssen verklagt, die vermutete (und vom Gericht verneinte) Arbeitnehmereigenschaft spielte nur in zweiter Linie eine Rolle. Im BSG-Urteil von 2006 wiederum geht es nicht um die Frage, ob ein Vermögensberater scheinselbstständig ist oder nicht, sondern ob er der Rentenversicherungspflicht unterliegt. Der Vermögensberater wollte unbedingt als Selbstständiger angesehen werden, weil er keine Rentenversicherungsbeiträge abführen wollte. Das sah das Sozialgericht anders, es stufte ihn als "arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen" ein. Dieser Status ist eine Art Zwischenstufe zwischen einer klassischen Selbstständigkeit und einer unstrittig abhängigen Beschäftigung. Auf erneute Nachfrage der Redaktion teilte die DVAG-Pressestelle mit, sich nicht über die bereits gegebenen Antworten hinaus äußern zu wollen.

Eher Seminarleiter als Vermittler
Der Fall, den das Hessische Landesarbeitsgericht in wenigen Tagen verhandeln wird, weist einige Besonderheiten auf. Kläger ist kein "normaler" Vermittler, sondern ein langjähriger Direktionsleiter, der sich im Wesentlichen auf die Ausbildung neu angeworbener Vermögensberater konzentrierte. Er war zuletzt kaum noch im Endkundengeschäft tätig, vermittelte also nur noch wenige Versicherungspolicen oder Fondssparpläne. Vielmehr schulte er andere Vermittler, und zwar in Seminaren, deren Termin und Örtlichkeit ihm seinen Angaben zufolge von der DVAG genannt worden waren. Auch bei den Inhalten habe er sich natürlich nach den Vorgaben aus der Frankfurter Konzernzentrale richten müssen.

Zur Frage, ob jemand als selbstständiger Handelsvertreter oder als Angestellter gilt, findet sich auch eine Passage im Handelsgesetzbuch. Dort heißt es in Paragraf 84: "Selbständig ist, wer im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann." Nach Ansicht des langjährigen Direktionsleiters trifft beides auf ihn nicht zu. Das sind weitere Gründe, weshalb er sich rückblickend als abhängig Beschäftigter sieht. Am 17. April wird sich zeigen, ob das Landesarbeitsgericht in Frankfurt seiner Argumentation folgt – und ob sich daraus Rückschlüsse ziehen lassen, die nicht für ihn, sondern für alle ehemaligen und aktiven Vermögensberater relevant sein könnten. (bm)