Die Kanzlei Reiserer Baade Lachmann bezeichnet sich selbst als "Arbeitsrechtsboutique". Die Heidelberger Juristen haben sich auf die Beratung mittelständischer und großer Unternehmen in Fragen rund ums Arbeits- und Sozialrecht spezialisiert. Ein Thema, das immer wieder auf den Schreibtischen der Fachanwälte landet, ist der sogenannte Dritt- oder Fremdpersonaleinsatz, der schnell ein Problem nach sich ziehen kann: Scheinselbstständigkeit. Maximilian Lachmann, einer der Partner der Kanzlei, erläutert im Interview mit FONDS professionell ONLINE, warum mit Blick auf diesen Aspekt auch die Finanzbranche aufpassen muss.


Herr Lachmann, viele Finanzvertriebe und Versicherer beschäftigen Tausende angeblich selbstständige Handelsvertreter. Nach dem, was sich Laien unter Selbstständigkeit vorstellen, sieht das aber oft nicht aus: Sie dürfen in der Regel nur Produkte ihres Auftraggebers vertreiben, müssen die Software des Unternehmens nutzen und an verpflichtenden Schulungen teilnehmen. Die Vertriebsorganisation stellt den Vermittlern meist auch eine E-Mail-Adresse und den Internetauftritt, mitunter gibt es sogar Vorgaben, wie sie beim Kunden aufzutreten haben. Klingt das nicht verdächtig nach Scheinselbstständigkeit?

Maximilian Lachmann: Bevor ich konkret auf Ihre Frage eingehe, würde ich gerne etwas ausholen. Beim Thema Scheinselbstständigkeit ist es nämlich wichtig zu wissen, das sehr unterschiedliche Rechtsbereiche betroffen sein können. Scheinselbstständigkeit kann arbeitsrechtliche, sozialversicherungsrechtliche, steuerrechtliche und sogar strafrechtliche Konsequenzen haben. Außerdem kann die Beurteilung ein und desselben Sachverhaltes je nach Gericht sehr unterschiedlich ausfallen.

Das heißt?

Lachmann: Es kommt in der Praxis durchaus vor, dass das Arbeitsgericht einen Auftragnehmer als selbstständig einstuft, das Sozialgericht die gleiche Konstellation aber als abhängige Beschäftigung wertet. Die arbeitsrechtlichen Konsequenzen halten sich für ein betroffenes Unternehmen meist im Rahmen. Gilt der Beschäftigte als Arbeitnehmer, genießt er zum Beispiel Urlaubsanspruch und Kündigungsschutz.

Der Vertrag lässt sich also nicht mehr so ohne Weiteres kündigen.

Lachmann: Genau, die erhoffte Flexibilität ist dahin. Deutlich schmerzhafter sind in aller Regel jedoch die sozialversicherungsrechtlichen Aspekte. Vor dem Sozialgericht landet ein Fall oft dann, wenn der Mitarbeiter ein sogenanntes Statusfeststellungsverfahren bei der Deutschen Rentenversicherung, kurz DRV, eingeleitet hat. Die DRV muss dann prüfen, ob der Beschäftigte tatsächlich selbstständig tätig war. Überwiegt ihrer Einschätzung nach die Arbeitnehmereigenschaft, erlässt die Behörde einen Bescheid, gegen den das Unternehmen Widerspruch einlegen kann. Nicht wenige Fälle enden schließlich vor dem Gericht. Anders als vor dem Arbeitsgericht gibt es vor dem Sozialgericht bei Statusverfahren grundsätzlich keine Vergleichsmöglichkeit, wodurch ein Fall geräuschlos beigelegt werden könnte.

Die DRV gibt also nicht klein bei, sondern besteht auf ein rechtskräftiges Urteil?

Lachmann: Ja, selbst wenn es dafür notfalls durch alle Instanzen bis hoch zum Bundessozialgericht in Kassel geht. Setzt sich die Rentenversicherung durch, hat das für Unternehmen häufig empfindliche finanzielle Konsequenzen. Zum einen muss es die Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen. Die Pflichtbeiträge zur Renten-, Arbeitslosen-, Pflege- und Krankenversicherung summieren sich in der Regel auf 20 Prozent des Lohnes – und das ist nur der Arbeitnehmeranteil. Der Arbeitgeberanteil in gleicher Höhe kommt noch obendrauf. Schuldner der Beiträge ist dann immer der Arbeitgeber.

Die Zahlungen werden aber durch die Beitragsbemessungsgrenze gedeckelt, oder?

Lachmann: Das stimmt, schmerzhaft sind sie dennoch. Ich habe das einmal für einen Betrieb überschlagen, der anderthalb Jahre lang zehn vermeintlich Selbstständige für ein monatliches Honorar von 10.000 Euro beschäftigt. Die Auftragssumme beläuft sich dann insgesamt auf 1,8 Millionen Euro. Kommt die DRV zu dem Ergebnis, dass die zehn Auftragnehmer in Wahrheit abhängig beschäftigt waren, belaufen sich die nachgeforderten Gesamtsozialversicherungsbeiträge auf gut 420.000 Euro. Das entspricht fast einem Viertel der Auftragssumme. Außerdem ist damit erst der Status quo wiederhergestellt, aber noch keine Strafe beglichen.

Wie hoch liegt diese Strafe?

Lachmann: Der Gesetzgeber sieht einen Säumniszuschlag von einem Prozent für jeden Monat vor, in dem keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden. Wer beispielsweise über 20 Jahre – also 240 Monate – hinweg Scheinselbstständige beschäftigte, muss für den am längsten zurückliegenden Monat zusätzlich zu den eigentlichen Beiträgen 240 Prozent dieser Summe als Strafe zahlen. Für den nächsten Monat sind es dann "nur" noch 239 Prozent, und so weiter. In solchen Fällen sitzt neben der Geschäftsführung des Unternehmens und uns als Anwalt häufig noch ein Insolvenzexperte am Tisch.

Ich habe häufiger gehört, dass die Ansprüche der DRV nach vier Jahren verjähren. Warum kann der Säumniszuschlag dann für einen derart langen Zeitraum angesetzt werden?

Lachmann: Bei "bewusster Fahrlässigkeit" endet die Verjährungsfrist nach vier Jahren, das stimmt. Bewusst fahrlässig meint in diesem Zusammenhang, dass der Arbeitgeber darauf vertraut, dass schon alles gutgehen wird. Handelt es sich jedoch um "bedingten Vorsatz", verjähren die Ansprüche der Sozialkassen erst nach 30 Jahren.

Und wann gehen die Sozialgerichte von "bedingtem Vorsatz" aus?

Lachmann: Wenn der Arbeitgeber die Scheinselbstständigkeit billigend in Kauf nimmt. Sie merken schon: Die Abgrenzung zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz gelingt nicht trennscharf, sondern unterliegt ein Stück weit der subjektiven Einschätzung durch die Richter. Die daraus folgenden Konsequenzen sind jedoch gravierend. Im Ergebnis kann an dieser Entscheidung der Fortbestand des gesamten Unternehmens hängen.

Zurück zur Ausgangsfrage: Könnte es sich bei einem vielleicht nur auf dem Papier selbstständigen Handelsvertreter eines Finanzvertriebs um einen Arbeitnehmer handeln?

Lachmann: Entscheidend sind immer, wie es so schön heißt, die "Gesamtumstände des Einzelfalls". Die Bestimmungen des Handelsvertretervertrags sind zwar relevant, wichtiger ist aber, wie die "höchstpersönliche Leistungserbringung" in der Praxis erfolgt. Eine pauschale Aussage für alle Handelsvertreter eines Vertriebs lässt sich daher nicht treffen, obwohl ein rechtskräftig entschiedener Fall natürlich auf ähnliche Konstellationen abstrahlen kann. Einen festen Kriterienkatalog, den die Arbeits- oder Sozialgerichte in solchen Fällen abarbeiten, gibt es leider nicht, wohl aber Punkte, die in aller Regel eine Rolle spielen.

Zum Beispiel?

Lachmann: Die Gerichte versuchen zu klären, ob der Beschäftigte fachlich und inhaltlich weisungsgebunden ist und Vorgaben bekommt, wann und wo er zu arbeiten hat. Erörtert wird auch, welches unternehmerische Risiko er trägt, ob er also beispielsweise eigenes Kapital eingebracht hat. Eine wichtige Rolle spielt zudem die Eingliederung in den Betrieb. Arbeitet der Handelsvertreter regelmäßig mit festangestellten Mitarbeitern zusammen, nutzt betriebliche Arbeitsmittel wie E-Mail oder firmeneigene Software und tritt nach außen hin als Mitarbeiter des Unternehmens auf, können das schon deutliche Hinweise auf eine Arbeitnehmereigenschaft sein.

Diese Beschreibung trifft wohl auf gleich mehrere deutsche Finanzvertriebe zu.

Lachmann: Scheinselbstständigkeit ist daher ein ernstes Risiko für solche Vertriebe. Die Punkte, die ich genannt habe, sind allerdings keine K.-o.-Kriterien. Ein Finanzunternehmen könnte beispielsweise argumentieren, dass die regulatorisch geforderten Standards nicht eingehalten werden könnten, wenn jeder Vermittler mit seiner eigenen IT arbeiten würde. Und eine firmeneigene Mail-Adresse könnte schon deshalb geboten sein, weil es in diesem Geschäft auf Seriosität ankommt. Wer würde schon einen Versicherungsvertrag bei einem Vertreter abschließen, der mit seiner Web.de-Adresse kommuniziert? Eng wird es für ein Unternehmen in jedem Fall, wenn es festangestellte Kollegen gibt, die im Wesentlichen die gleiche Arbeit verrichten wie ein auf dem Papier selbstständiger Mitarbeiter. Es wäre schwierig, aus einer solchen Nummer herauszukommen.

Und was kann ein Unternehmen tun, um sicher zu sein, keine Scheinselbstständigen zu beschäftigen?

Lachmann: Weil es keinen festgelegten Kriterienkatalog gibt, kann selbst ein versierter Jurist keine Verträge ausarbeiten, die absolute Sicherheit versprechen. Wer Rechtssicherheit möchte, müsste im Zuge eines Statusfeststellungsverfahrens bei der DRV eine sogenannte Gruppenfeststellung beantragen, die dann für alle Beschäftigten mit vergleichbaren Aufgaben gilt. Ein solches Verfahren birgt für das Unternehmen allerdings das Risiko, dass die Prüfung durch die DRV völlig anders ausfällt als erhofft – mit womöglich dramatischen finanziellen Folgen.

Vielen Dank für das Gespräch. (bm)