Anleger leben ungesund – zumindest, wenn ihre Investments Verluste einfahren. Zu diesem Schluss kommt Stefan Mittnik, Finanzprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Mitgründer des digitalen Vermögensverwalters Scalable Capital, in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung." Denn Kursverluste im Depot bescheren den Betroffenen eine höhere Wahrscheinlichkeit, Stressschübe zu erleiden. Ja sogar Depressionen bis hin zu Selbstmorden treten in solche Phasen tendenziell häufiger auf, so Mittnik.

"Durch Börsenabstürze wie in der Dotcom- oder der Lehman-Krise erleiden viele Anleger das, was Ökonomen als negativen Vermögensschock bezeichnen", erläutert der Betriebswirt. "Wie die medizinische Forschung zeigt, können negative Schocks – egal welcher Natur – akuten Stress erzeugen." Dieser könne zu massiven Herz-Kreislauf-Störungen, Angstzuständen und psychischen Dauerkrankheiten führen.

Stress im Crash
Der Ökonom Mittnik durchforstete auf der Suche nach Belegen die aktuelle Forschung zu dem Thema. Mittnik stieß dabei unter anderem auf eine Studie der amerikanischen Loyola University, welche die gesundheitlichen Auswirkungen der Finanzkrise auf Privatpersonen untersuchte. Demnach litt nach der Lehman-Pleite jeder 24. der 24.000 untersuchten Amerikaner unter einer schweren Depression. Zuvor war es nur jeder 43. gewesen.

Die Finanzkrise 2009 soll sogar die gesamtgesellschaftliche Selbstmordrate in die Höhe getrieben haben. Einer im "British Medical Journal" veröffentlichten Studie zufolge schnellte die Rate in dem betreffenden Jahr in den 54 betrachteten Ländern um 5.000 Suizide nach oben. Diese Zunahme sei nicht durch die übliche statistische Fluktuation zu erklären, meinen die Forscher aus Großbritannien und Hong Kong.

Stresstest für Berater
Ein möglicher Ausweg aus dem gesundheitsgefährlichem Stress-Hamsterrad wäre, die Anlageentscheidungen an Finanzberater abzugeben. Denn: "Trifft ein Investor eine verlustreiche Entscheidung in eigener Regie, ist dies emotional in der Regel belastender, als wenn sie ein Dritter zu verantworten hat", konstatiert der Finanzprofessor. "Selbstvorwürfe, Schuldgefühle und Scham können die Folge sein."

Allerdings seien auch Finanzberater nicht vor Stress gefeit. So zeige eine Studie der Financial Planning Association zwar, dass Investoren mit Finanzplan tendenziell sorgenfreier leben. "Allerdings nahmen auch 313 Finanzberater an der Studie teil. Mit dem Ergebnis, dass Stress unter ihnen noch verbreiteter war als unter den Anlegern", erklärt Mittnik. Ein anhaltender Stress-Zustand könne bei ansonsten kühl kalkulierenden Investmentexperten fatale Folgen haben, führt der Finanzexperte weiter aus. Die systematische Erwägung und Bewertung von Handlungsalternativen unterbleibe, es werde eher nach "Schema F" gehandelt. "Bevor man einen Finanzprofi hinzuzieht, sollte man ihn also eigentlich einem Stresstest unterziehen", empfiehlt Mittnik.

Stressvermeidung – mit fatalen Folgen
Angesichts all dieser Ergebnisse sei es kein Wunder, wenn Sparbuch- und Festgeldsparer als einfachstes und effektivstes Mittel der Stressvermeidung der Börse fernbleiben, schreibt der Ökonom in der "FAS". Diese rationale Erklärung habe aber natürlich negative Folgen für Vermögensaufbau und die Altersvorsorge. Mittnik stellt daher zwei Forderungen, die sich an die Finanzindustrie richten: "Erstens gilt es, die verbreitete Börsenangst durch offene und klare Risikokommunikation abzubauen, und zweitens Anlagelösungen anzubieten, die dem individuellen Risikoempfinden gerecht werden." (ert)