Jedes dritte Finanzhaus in Deutschland nutzt bislang keinerlei Ansätze aus der Verhaltensökonomie. Zu diesem Ergebnis kommt eine Umfrage der CFA Society Germany, an der 127 Führungskräfte von Asset Managern, Banken und anderen Finanzunternehmen teilnahmen. Der Berufsverband für Investmentmanager und professionelle Investoren hat hierzulande eigenen Angaben zufolge insgesamt rund 2.900 Mitglieder.

"Ziel der Untersuchung war es, mehr Erkenntnisse über den Stellenwert und die Anwendungsfelder der Behavioral-Science-Forschung in deutschen Investmenthäusern zu gewinnen", teilt der Verband mit. Demnach stehen 86 Prozent der Teilnehmer einer Integration von Modellen der Verhaltenswissenschaften positiv oder eher positiv gegenüber. Dies beziehe sich sowohl auf organisationsinterne Prozesse als auch auf Potenziale für Investmententscheidungen, Dienstleistungen und Produkte. Behavioral-Finance-Ansätze, um menschlich-emotionalen Befangenheiten ("Bias") sowie Anomalien bei der Informationsverarbeitung entgegenzuwirken, kämen bei immerhin 38 Prozent der Arbeitgeber bereits zum Einsatz. In der operativen Umsetzung beschränke sich der Instrumentenkasten jedoch zumeist auf Kunden- und Mitarbeiterbefragungen.

"Das Potenzial ist noch nicht ausgeschöpft"
Der Umfrage zufolge nutzen die wenigsten Asset Manager und Finanzinstitute sehr häufig oder häufig Behavioral-Science-Werkzeuge zur Unterstützung von Investitionsentscheidungen (18 %), zum Bias-Screening (15 %) oder für sogenannte A/B-Tests (10 Prozent). Lediglich acht Prozent verfügen über entsprechende Labormöglichkeiten. "Insgesamt deuten die Ergebnisse auf eine Diskrepanz zwischen der Bedeutung, die Finanzprofis dem Thema beiordnen, und seiner Abdeckung in den Unternehmen hin", so die CFA Society. So nutze jedes dritte Finanzhaus (32 %) die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie bislang überhaupt nicht. Nur bei etwa jedem fünften Institut spielten sie eine Rolle im Risikomanagement, bei der Konzeption neuer Finanzlösungen, für Apps oder für die Ausgestaltung von Informationsmedien.

"Das Potenzial von Behavioral Science ist im Finanzsektor noch nicht ausgeschöpft", folgern die beiden Studienautoren Florian Wedlich und Martin Sauermann, Leiter der entsprechenden Arbeitsgruppe bei der CFA Society Germany. Doch das könnte sich ändern: 75 Prozent der Umfrageteilnehmer rechnen mit einer stärkeren Verbreitung der Behavioral Science in den nächsten Jahren.

"Beitrag zur Finanzbildung leisten"
Auf regulatorischer Ebene werde das Thema angesichts der Incentivierung bestimmter Verhaltensweisen ("Nudging") durch die Finanzindustrie und etwaiger manipulativer Techniken aufmerksam begleitet, meint Susan Spinner, Vorstandschefin der CFA Society Germany. "Alle Marktteilnehmer, auch solche mit langjährigen Erfahrungen im Finanzbereich, können unbewussten Verhaltensmustern oder Vorurteilen anheimfallen", betont sie. "Begrüßenswert wäre, wenn die Zukunft der Behavioral Science in der Finanzbranche dort liegt, wo sie einen Beitrag zur Finanzbildung und zur Verbesserung von Risikoeinschätzungen leistet." (bm)


Wie manche Banken Erkenntnisse aus der Behavioral-Finance-Theorie nutzen, um sich in der Wertpapierberatung von Mitbewerbern abzusetzen, lesen Sie in FONDS professionell 2/2023 ab Seite 420. Angemeldete Nutzer können den Beitrag auch hier im E-Magazin abrufen.