Einige Regelungen waren schon vorher bekannt, am 18. Januar war dann alles perfekt: Das Deutsche Institut für Normung (DIN) veröffentlichte die endgültige Version der Norm 77230 "Basis-Finanzanalyse für Privathaushalte". Nach diesem Regelwerk können Finanzberater und Versicherungsvermittler standardisiert den Bedarf ihrer Kunden ermitteln. Das erscheint manchen Branchenvertretern praktisch und hilfreich, andere haben hingegen Vorbehalte gegen den neuen Standard. 

FONDS professionell hat aus diesem Grund zu einem Streitgespräch über die Plus- und Minuspunkte der Norm eingeladen. Es diskutieren: Klaus Möller, Vorstand des Defino Instituts für Finanznorm aus Heidelberg sowie Obmann des DIN-Ausschusses für die neue Norm, und Oliver Pradetto, Gründer und Co-Geschäftsführer des Lübecker Maklerpools Blau Direkt.


"Wir werden die Norm nicht empfehlen", sagt Oliver Pradetto. Die DIN 77230 bringe für Vermittler zusätzlich zu den Vorschriften aus Mifid II und der IDD Vorgaben, die sie nur unter Druck setzten. Zwar ist die neue Norm kein Gesetz. "Aber es ist doch wohl klar: Wenn eine Norm eingeführt wird, müssen sich Berater und Vermittler früher oder später auch daran halten", erklärt Pradetto. Damit seien sie gezwungen, ihre Beratungs- und Vertriebskonzepte anzupassen. Und das in einer Zeit, in der sie ohnehin mit neuen Regulierungsvorschriften, Verordnungen und gesetzlichen Regelungen zu kämpfen hätten.

"Gerade weil Berater und Vermittler sich jetzt in einem Regulierungsdschungel zurechtfinden müssen, hilft ihnen die DIN 77230", hält Klaus Möller dagegen. Sie unterstütze mit klaren Regeln für die Analyse des Bedarfs eines Kunden. Vermittler, die sich an die Vorgaben der Norm halten, hätten bei juristischen Auseinandersetzugen wegen Falschberatung außerdem gute Karten. Immerhin liefere der Standard vor Gericht einen Anhaltspunkt dafür, dass ein Vermittler den Bedarf eines Kunden auf einer soliden Basis analysiert hat.

Schnell in der Haftungsfalle
Genau dadurch gerieten Berater sehr leicht in eine Haftungsfalle, glaubt indes Pradetto. "Unterlaufen ihnen bei der Analyse nach der DIN-Norm Fehler, können Kunden ihnen viel leichter Verschulden nachweisen", sagt er. Zudem hätten diejenigen Nachteile, die nicht mit der DIN-Norm arbeiten, da Gerichte diese künftig als Standard voraussetzen werden. Keineswegs, findet Möller. "Richter müssen sich schließlich immer ihr eigenes Urteil bilden und gegebenenfalls Gutachten hinzuziehen", sagt er.

Kritisch sieht Pradetto die Tatsache, dass Berater für die Analyse nach der DIN 77230 eine spezielle Software benötigen. Diese müssen die Vermittler erwerben. Wer die Kosten nicht tragen möchte, muss sich etwa einem Pool anschließen, der die Software zur Verfügung stellt. Das schafft Abhängigkeiten, findet Pradetto. Schlimmer noch: "Wenn man die Arbeit eines Vermittlers normiert, kann er durch IT-Tools ersetzt werden", sagt Pradetto. Damit werde er zu einer Art "Bedienautomat". "Ein großer Pluspunkt, die Persönlichkeit des Beraters, wird wegnormiert", kritisiert der Blau-Direkt-Geschäftsführer.

Produktberatung bleibt individuell
"In der Finanzanalyse nach der DIN-Norm tritt die Individualität des Beraters hinter die Individualität des Kunden zurück, das stimmt", räumt Möller ein. Diese könne er bei der eigentlichen Beratung, wenn es um die Auswahl der richtigen Produkte geht, aber noch genug ausleben. "Und was das Thema Digitalisierung angeht: Ich bin sehr gespannt, wie lange es dauert, bis jemand diese Norm mit einer Software so abbildet, dass ein Privatkunde zu Hause am Rechner bis zum Ende bei der Stange bleibt", sagt Möller. Das Regelwerk sei schließlich komplex.

Als "Zwangsbeglückung" bezeichnet Pardetto es, wenn Kunden nur eine Kfz-Police abschließen möchten, der Vermittler dafür zuvor aber ihren gesamten Finanzbedarf analysieren muss. "Die Norm schreibt keineswegs vor, dass es in Zukunft nur noch ganzheitliche Analysen geben darf", wendet Möller ein. Sie gebe lediglich die Empfehlung, wie eine ganzheitliche Analyse dann aussehen sollte, wenn sie sinnvoll, angeraten oder gewünscht ist. 

Kein Zwang
Gegen einen strukturierten Prozess hat Oliver Pradetto auch nichts einzuwenden. Die Norm sollte aber nur einer von mehreren möglichen Wegen sein, findet er. "Vermittler, die anders vorgehen, dürfen nicht ins Abseits gedrängt werden", fordert er. Sie sollten auch nicht dazu gezwungen werden, die DIN zu nutzen. (am/jb)


Das vollständige Streitgespräch zur DIN-Norm 77230 finden Sie in der aktuellen Heftausgabe 1/2019 von FONDS professionell, die den Abonnenten in den kommenden Tagen zugestellt wird.