Viele Verbraucher runzeln bei diesen Zahlen sicher die Stirn: Die Inflation in Deutschland betrug im Mai 6,1 Prozent, in Österreich 9,0 Prozent. Wirklich? Ein Blick auf die Einkaufszettel sagt ihnen was anders, der Blumenkohl etwa war doch vor 18 Monaten gefühlt noch wesentlich billiger. Genau dies ist das Problem: Es existiert eine gefühlte und eine tatsächliche Inflation, die in den beiden Ländern derzeit aber so weit auseinander liegen wie zuletzt bei der Euro-Einführung vor mehr als 20 Jahren. Das ergab eine Analyse der Kreditversicherer Allianz Trade und Acredia, bei der auch die Treiber der unterschiedlichen Entwicklungen untersucht wurden.

"Die gefühlte und die tatsächliche Inflation klaffen insbesondere in Deutschland weit auseinander", sagt Jasmin Gröschl, Senior-Volkswirtin bei Allianz Trade. Die gefühlte Inflation in der Eurozone habe zuletzt bei fast 17 Prozent gelegen, ungefähr neun Prozentpunkte höher als die tatsächliche Teuerungsrate in diesem Quartal. In Deutschland lag die Abweichung der gefühlten Inflation von mehr als 18 Prozent demnach sogar bei elf Prozentpunkten.

In Österreich betrug die gefühlte Inflation im zweiten Quartal 19,5 Prozent, das sind 10,5 Prozentpunkte mehr als die tatsächliche Teuerungsrate, wie Gudrun Meierschitz, Vorständin bei Acredia, erläutert. "Der Unterschied zwischen gefühlter und realer Teuerung spielt für Unternehmen eine wichtige Rolle", sagt Meierschitz. "Denn die gefühlte Inflation beeinflusst das Handeln der Konsumenten und hat zum Beispiel Auswirkungen auf das Kaufverhalten."

Psychologische Aspekte
Das Auseinanderklaffen von tatsächlicher und gefühlter Inflation habe verschiedene Gründe. Verbraucher achten beispielsweise stärker auf Preisänderungen bei häufig anfallenden Einkäufen wie Lebensmittel und Getränke, Kraftstoff oder sonstigen Besorgungen im Supermarkt. "Wenn dort diese Preise überdurchschnittlich steigen, neigen die Menschen dazu, eine wesentlich höhere Teuerung zu empfinden", schreiben die Autoren der Studie in einer Pressemitteilung. Dazu kämen psychologische Aspekte, demografische und regionale Unterschiede sowie individuelles Konsumverhalten, die da dazu führen, dass Verbraucher den Preisanstieg anders beurteilen als die offizielle Inflationsmessung. 

Aber nicht nur in der Wahrnehmung der Inflation bestehen viele Unterschiede – in Europa sowie im deutschsprachigen Raum klaffen die Teuerungsraten weit auseinander. "Schlüsselfaktoren bei der Inflation sind die geografische Nähe zu Russland, die Abhängigkeit von Energie- und Lebensmittelimporten, staatliche Eingriffe zur Senkung einzelner Preise und die Stärke der jeweiligen Währung", so Gröschl.

Russland und schwacher Euro befeuern Inflation  
In Deutschland kommen der Allianz Trade zufolge alle Faktoren, die die Inflationsrate beeinflussen, zum Tragen: Die hohe Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland ließ die Energiepreisrechnung stark ansteigen. In der Eurozone habe ein schwacher Euro gegenüber dem Dollar die Inflation erhöht, da Rohstoffe wie Öl oder Gas, die in Dollar gehandelt werden, teurer geworden sind. In den letzten Wochen und Monaten habe Deutschland aber aufgrund der Zinserhöhungen der EZB von dem stärkeren Euro profitiert: Die Erzeuger- und Großhandelspreise sanken, was die Inflation mit einer gewissen Verzögerung dämpfen wird.

Dass Österreich eine höhere Inflation hat als die deutschen Nachbarn, ist keineswegs neu – allerdings ist der Abstand aktuell höher als in den letzten Jahrzehnten. Ein Teil erklärt laut Allianz Trade der unterschiedliche Warenkorb: Österreich hat einen starken Tourismussektor, in dem Investitionen in höhere Qualität in letzter Zeit zu einem starken Preisanstieg geführt haben. Da der Tourismussektor im Warenkorb der harmonisierten Verbraucherpreise in Österreich fast dreimal so viel Gewicht hat wie in Deutschland, bestimmt er somit die höheren Inflationsraten. (jb)