Boeing überlegt, die Produktion des 747 dranzugeben, Airbus verkleinert die Produktionskapazitäten für den A380. In welcher Situation befinden sich die Luftfahrtmärkte? Wir sprachen mit Dr. Martina Noß und Daniel Weiß von der NordLB.

Wie bewerten Sie den derzeitigen Zustand der internationalen Luftverkehrsmärkte?
Dr. Martina Noß: Im ersten Halbjahr 2016 entwickelte sich die Nachfrage nach Flugreisen positiv. So erhöhte sich gemäß der IATA, der International Air Transport Association, der weltweite Passagierluftverkehr um rund sechs Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Allerdings blicken einige Fluggesellschaften für den weiteren Verlauf des Jahres zunehmend skeptischer in die Zukunft. So haben diverse Airlines - unter anderen Lufthansa, IAG, Delta Airlines sowie Singapore Airlines - bereits ihren Ausblick für das Jahr 2016 gesenkt.

Daniel Weiß: Besonders die Situation in Europa ist infolge von regionalen Überkapazitäten und damit verbundenen Preiskämpfen angespannt beziehungsweise hat sich weiter verschärft. Ursächlich hierfür sind unter anderem ein sich abschwächendes Weltwirtschaftswachstum, die Terroranschläge beziehungsweise das steigende Terrorismusrisiko, politische Unsicherheiten sowie potentielle Auswirkungen des „Brexits“. In der Folge stellt unter anderen Lufthansa eine zunehmende Kurzfristigkeit bei Buchungen und eine sinkende Nachfrage vor allem auf Langstreckenflügen nach Europa fest. Zudem haben zahlreiche Airlines ihre Kapazitäten wegen der Terrorismusgefahr weg vom östlichen hin zum westlichen Mittelmeerraum verlagert, so dass sich hier die Überkapazitätssituation sowie der Druck auf die Ticketpreise weiter verschärft haben.

Dr. Martina Noß: Auch die Luftfracht kämpft weltweit weiterhin mit erheblichen und weiter steigenden Überkapazitäten im Markt. Während die globale Frachtluftverkehr aufgrund eines schwächelnden Welthandels im ersten Halbjahr 2016 lediglich um 0,5 Prozent zunahm, stiegen im gleichen Zeitraum die angebotenen Frachtkapazitäten unter anderem durch zunehmende Belly-Kapazitäten, das sind Beilademöglichkeiten auf Passagiermaschinen, mit rund sechs Prozent. In der Folge sank die Auslastung der Maschinen und der Druck auf die erzielbaren Frachtraten steigt weiter. Insgesamt deuten unseres Erachtens zunehmend erste Frühindikatoren – wie die Abschwächung der Auslastungsfaktoren und Prognosereduktionen bei den Airlines – darauf hin, dass der aktuelle Luftfahrtzyklus sein Peak-Niveau hinter sich hat, und mit einer Marktabschwächung zu rechnen sein wird.

Gerüchte über Air Berlin und Lufthansa sind immer wieder zu vernehmen. Welche Veränderungen stehen ihrer Einschätzung nach bei den deutschen Airlines an?
Dr. Martina Noß: Deutschlands Luftverkehrsmarkt ist überdurchschnittlich liberal organisiert. Mehr als 300 internationale Airlines bieten ab Deutschland Flüge zu 600 Zielen weltweit. Besonders Airlines aus dem Mittleren Osten, aus der Türkei sowie Low Cost Carrier wie Ryanair und Easyjet haben in den vergangenen Jahren ihre Kapazitäten in Europa und damit ihre Marktanteile massiv ausgebaut.
Dabei gerieten die deutschen Carrier zunehmend unter Druck. Auch die Halbjahresergebnisse des BDL zur Lage der deutschen Verkehrswirtschaft verdeutlichen dies. Während die durch Airlines weltweit verkauften Personenkilometer im ersten Halbjahr durchschnittlich mit sechs Prozent wuchsen, schrumpften die deutschen Fluggesellschafen wie Air Berlin, Condor, Lufthansa-Gruppe und Tuifly um 0,8 Prozent.
Diese Entwicklung ist einerseits den gesetzlichen Rahmenbedingungen geschuldet – Luftverkehrssteuer, Luftsicherheitskosten, rigide Nachtflugbeschränkungen – andererseits aber auch Folge hausgemachter Probleme wie beispielsweise hohe Verwaltungskosten und/oder eine fehlende Fokussierung auf ein klares Kunden- und Geschäftssegment.

Daniel Weiß: Wie bereits in den letzten Jahren dürften bei den deutschen Airlines auch zukünftig Effizienzsteigerung, Kostensenkungen und konsequentes Kostenmanagement im Vordergrund stehen. Zudem passt zum Beispiel Lufthansa ihr Geschäftsmodell an. Neben den klassischen Netzwerk-Airlines wie Lufthansa Passage, SWISS und Austrian Airlines etabliert Lufthansa strategisch Eurowings weiter als Zweitmarke im wachsenden Geschäftssegment preissensibler Direktverbindungen inner- und außerhalb Deutschlands.

Dr. Martina Noß: Bei der Veröffentlichung deutlich negativer Halbjahrjahreszahlen kündigte Air Berlin an, „im Zuge des fortlaufenden Restrukturierungsprozesses tiefgreifende Veränderungen im gesamten Unternehmen vorzunehmen“. Dabei setzt Air Berlin weiterhin auf ihre enge Partnerschaft mit Etihad Airways, dem Großaktionär von Air Berlin. Zudem will Air Berlin den Ausbau als Netzwerk-Carrier mit den beiden Drehkreuzen Berlin und Düsseldorf forcieren. Des Weiteren soll das Transatlantikgeschäft speziell durch Langstreckenverbindungen in die USA erweitert werden. In den letzten Wochen gab es in der Presse Spekulationen darüber, dass Lufthansa mit Etihad über den Kauf der dezentralen Verkehre Air Berlins verhandelt. Air Berlin würde sich in der Folge als reine Netzairline auf die Flughäfen Düsseldorf und Berlin konzentrieren. Wie hoch der Wahrheitsgehalt dieser Meldungen ist, wissen wir nicht.

Die Auftragsbücher von Airbus und Boeing sind voll. Ist über kurz oder lang mit einem weiteren Marktteilnehmer im Luftfahrtbau zu rechnen?
Dr. Martina Noß: Seit rund zwei Jahrzehnten werden sämtliche Marktsegmente oberhalb von Passagierflugzeugen mit mehr als 100 Sitzplätzen von Boeing und Airbus dominiert. Ursächlich für dieses Duopol sind vor allem hohe Markteintrittsbarrieren wie die komplexen technischen Anforderungen beim Flugzeugbau oder die hohe Kapitalbindung. Grundsätzlich sind die Markteintrittsbarrieren bei den Narrowbodies, beispielsweise dem A320 und der B737, geringer als im Segment der Widebodies, etwa dem A380 und der B777. Daher drängen speziell in das Segment der Narrowbodies neue Flugzeugbauer. Konkret sind dies Bombardier (CSeries), Comac (C919), UAC (IRKUT MC-21) und Kawasaki (YPX).
Wie schwer und kostenintensiv es allerdings ist, mit einem komplett neu entworfenen Flugzeug in das Segment der Narrowbodies einzutreten, zeigt das Beispiel der CSeries von Bombardier. Aufgrund einer verzögerten Markteinführung und einer Vervielfachung der ursprünglich veranschlagten Entwicklungskosten musste die Flugzeugsparte von Bombardier im vergangenen Jahr mit Regierungsgeldern unterstützt werden. Im ersten Halbjahr 2016 drückten Rabatte für Schlüsselkunden und der Produktionsanlauf der CSeries das Nettoergebnis von Bombardier deutlich ins Minus.

Daniel Weiß: Unter den erkennbaren Wettbewerbern ist unseres Erachtens aufgrund der staatlichen, vor allem finanziellen Unterstützung der chinesische Flugzeugbauer COMAC der Kandidat mit dem größten Potenzial. Allerdings hat sich auch der Zeitplan von COMAC aufgrund technischer Probleme zwischenzeitlich um bis zu drei Jahre verzögert. Der Erstflug ist derzeit für Ende 2016/Anfang 2017 geplant und die Erstauslieferung ist bis Ende 2018 vorgesehen. Wir gehen generell davon aus, dass COMAC zunächst versuchen wird, auf dem heimischen Markt Anteile zu gewinnen, bevor das Flugzeug auch in ausländischen Märkten angeboten wird. In reiferen Luftfahrtmärkten erwarten wir, dass COMAC zunächst Zeit benötigen wird, um Vertrauen zum Beispiel in die Zuverlässigkeit des Flugzeugs C919 aufzubauen.

Wie bewerten Sie die Geschichte und Zukunft des A380?
Daniel Weiß: Im Zeitraum von 2007 bis 2013 konnte das A380-Programm durchschnittlich rund 180 offene Bestellungen aufweisen. Seit zwei Jahren ist allerdings ein Abwärtstrend zu beobachten. Fluggesellschaften hielten sich mit Neubestellungen zurück. Einige Airlines stornierten ihre bereits getätigten Aufträge oder wollten ihre A380-Flugzeuge nicht mehr in Empfang nehmen, so zum Beispiel Quantas und Virgin Atlantic.
Zwar orderten in 2016 ANA drei und Iran Air zwölf A380-Flugzeuge, allerdings muss Airbus unseres Erachtens 2016 weitere Käufer finden, damit das A380-Programm über die Dekade hinaus noch eine Zukunft haben soll. Um sich zusätzliche Zeit zu verschaffen, hat Airbus angekündigt, die Produktion ab 2018 von derzeit 27 Einheiten pro Jahr auf 12 Stück zu reduzieren. Gemäß Angaben von Airbus wird die Gewinnschwelle bei der A380-Produktion allerdings erst ab etwa zwanzig A380-Auslieferungen pro Jahr erreicht. Vor diesem Hintergrund befürchtete zum Beispiel der CEO von Emirates Tim Clark kürzlich: „Meine größte Sorge ist, dass sie [AdR: Airbus] aufhören das Flugzeug A380 zu produzieren“.
Über das finale Schicksal dürfte auch die Entwicklung einer größeren A350-Variante mit bis zu 400 Sitzplätzen entscheiden. Sollte Airbus als Antwort auf die B777-9 ein entsprechendes Konkurrenzprodukt ankündigen, könnte dies unseres Erachtens auch die letzten A380-Bestellungen abseits von Emirates kannibalisieren.

Welche Märkte halten Sie für zukunftsfähig und interessant?
Dr. Martina Noß: Airbus und Boeing gehen weiterhin von einem langfristig stabilen Wachstumstrend in der Luftfahrt aus. Bis 2034 wird ein durchschnittlicher Zuwachs des globalen Passagier- und Frachtverkehrs zwischen 4,6 und 4,9 Prozent pro Jahr prognostiziert. Hiernach verdoppelt sich das Beförderungsaufkommen in den kommenden 15 Jahren erneut. Das Wachstum dürfte gemäß der Forecasts wesentlich durch Schwellenländer, insbesondere im asiatisch-pazifischen Raum, getragen werden, in denen die Mittelschicht laut Prognosen von Oxford Economics bis 2035 um rund 2 Milliarden Menschen zunehmen wird. Erzielbar ist das prognostizierte 20-Jahresluftverkehrswachstum allerdings nur dann, wenn die bestehenden Herausforderungen wie Ausbau der Infrastruktur, Öffnung der Lufträume, fehlendes Flugpersonal sowie weitere Liberalisierung des Luftverkehrs gelöst werden. Ansonsten ist mit deutlich geringeren Wachstumsraten zu rechnen. Ceteris paribus rechnet die IATA in seinem „Status quo“-Szenario mit durchschnittlich 3,8 Prozent Wachstum pro Jahr. Im Falle einer zunehmenden Regulierung erwartet IATA lediglich ein Wachstum von 3,0 Prozent.

Dr. Martina Noß leitet den Bereich Sector & Regional Research bei der NordLB. Daniel Weiß ist Analyst im Bereich Sector Research – Aviation der NordLB.