Versicherung finanziert erfolglose Klagen. Eine Anwaltskanzlei hat der ARAG Rechtsversicherung bis Mitte 2014 Kosten in Höhe von insgesamt acht Millionen Euro eingebrockt. Die angefallene Summe setzt sich zusammen aus den Anwalts- und Gerichtskosten in rund 1.000 bis 1.500 erfolglosen Klagen – im Wesentlichen Schadensersatzklagen gegen die seit 2007 insolvente Göttinger Gruppe mit ihrem Kernunternehmen Securenta AG. ARAG Generalbevollmächtigter Klaus Heiermann: „Nach unseren Rechtsschutzbedingungen mussten wir die Anwalts- und Gerichtsgebühren für unsere Versicherten übernehmen. Aber mittlerweile prüfen wir bei einer Anfrage in Securenta-Klagen sehr kritisch und lehnen auch wegen mangelnder Erfolgsaussichten ab. Zudem sind viele Ansprüche aus diesem Fall bereits verjährt.“
Als der Versicherer seinen Kunden damals mitteilte, in welcher Höhe das Unternehmen bereits Anwalts- und Gerichtskosten übernommen hatte, erlebte er bisweilen verblüffte Reaktionen. So wussten einige Versicherte Heiermann zufolge gar nicht, dass in ihrem Namen geklagt worden war. Und das war nicht alles. „Uns ist aufgefallen, dass die Klageschriften nicht individuell verfasst waren. Wir hatten den Eindruck, dass die Schriftsätze teilweise identisch waren. Außerdem schien es uns, als hätte die Kanzlei unseren Kunden Schadensersatzsummen in nicht nachvollziehbarer Höhe in Aussicht gestellt“, sagt der Generalbevollmächtigte.

Schwarze Schafe. Für den Versicherer sind die Erlebnisse mit dieser Kanzlei eher eine Ausnahme. Heiermann: „Grundsätzlich haben wir kein Problem mit Anlegerschutzanwälten. 99 Prozent der Kanzleien arbeiten seriös und korrekt. Nur wenige gehen einen etwas anderen Weg. Die betroffenen Kunden können aber nicht erkennen, dass sie an ein schwarzes Schaf geraten sind.“ Andere Worte wählt Rechtsanwalt Martin Klein, Geschäftsführer des VOTUM Verbandes Unabhängiger Finanzdienstleistungs-Unternehmen in Europa: „Viele meiner Berufskollegen, die auf Anlegerschützerseite unterwegs sind, verhalten sich schlimmer als die letzte Drückerkolonne. Die haben den Anlegerschutz als Geschäftsmodell für sich entdeckt, sie interessiert nur das Wort Anleger. Aber die Gerichte erkennen zunehmend, was da los ist, und reagieren allergisch auf gewisse Kanzleien.“
Er nennt in diesem Zusammenhang das Urteil des Landgerichtes Lüneburg vom 25. März 2014 (Az. 5 O 58/14) zur Unzulässigkeit von Anleger-Massenklagen zwecks Generierung von Anwaltsgebühren. Gemäß den Berechnungen des Gerichtes hatte eine Kanzlei in diesem Fall wegen angeblicher Falschberatung bei Vermittlung eines Dreiländerfonds mehr als sechs Millionen Euro mit etwa 3.500 fast identischen Klageschriften verdient. Der Sinn dieser Massenklage habe nach Auffassung des Gerichtes vornehmlich darin bestanden, zu Gunsten der Kanzlei einen Millionenumsatz zu generieren, ohne dabei die Interessen der Mandanten hinreichend zu wahren.
Auch dem BGH seien die Praktiken der Anlegeranwälte inzwischen bekannt, so Klein. Der VOTUM-Geschäftsführer zitiert eine Passage aus dem BGH-Urteil vom 6. Dezember 2012 (Az. III ZR 66/12), die dies erkennen lasse: „Zwar ist dem Berufungsgericht einzuräumen, dass es in Anlegerschutzprozessen nicht selten zu beobachten ist, dass ′standardisierte′, offenbar aus Textbausteinen zusammengesetzte Schriftsätze eingereicht werden, denen es am nötigen Bezug auf den konkreten Fall und den ihm zugrunde liegenden spezifischen Sachverhalt fehlt.“

Auf Mandantenfang. Klein beobachtet etwa zehn Anwaltskanzleien im Bereich Anlegerschutz, die „aggressiv am Markt auf Mandantenfang“ seien, vor allem über das Internet. Bei der Argumentation der Anlegerschutzanwälte erlebt er eine Verlagerung. Klein: „Früher wurde geklagt wegen vermeintlich nicht erfolgter Aufklärung über fehlende Handelbarkeit oder das Totalverlustrisiko. Heutzutage versuchen Kanzleien zunehmend, Prospektfehler darzustellen. Sie argumentieren mit einer unterlassenen Plausibilitätsprüfung nach dem Motto: Der Vermittler hätte erkennen können, dass beispielsweise die Charterraten zu positiv dargestellt waren.“
Seit den Jahren 2012/2013 registriert Klein eine gewisse Übersättigung bei den Gerichten: „Es reicht den Landgerichten nicht mehr, wenn immer die ganze Litanei kommt, der Anleger sei nicht genügend aufgeklärt worden. Dies ist auch zum Nachteil der Anleger, die tatsächlich berechtigte Schadensersatzansprüche haben.“

Prozesse ohne Erfolgsaussicht. Helmut Schulz-Jodexnis, Verantwortlicher für Sachwerte und Immobilien bei Jung, DMS & Cie. (JDC), sagt: „Ein Anleger, der falsch beraten wurde, muss nach unserer Auffassung auch sein Recht bekommen. Aber es ist ein schlechter Ansatz, wenn Anwälte Klienten anwerben, obwohl sie wissen, dass Prozesse nicht gewonnen werden. Wie zum Beispiel laut eines Urteils (LG Lüneburg) gegen eine Anlegerschutzkanzlei geschehen. Es ist ein eigenständiges Geschäftsmodell einiger Anwaltskanzleien, Vertriebe zu verklagen, es hat oft nichts mit der individuellen Not der Anleger zu tun. Das stört Vertriebspartner und auch manchen genervten Anleger sehr.“
Schulz-Jodexnis berichtet von Vertriebspartnern, die zwei Tage pro Woche vor Gericht erscheinen müssten: „Diese Klagen binden unheimlich viel Zeit – die Vertriebe müssen die Unterlagen zusammenstellen und vor Gericht aussagen. Teilweise wird nach unseren Informationen auch bei Fonds geklagt, die gut laufen oder längst zurückgezahlt sind.“

Falsch und vorsätzlich. Die im Zusammenhang mit Anlegerschutzanwälten befragten Initiatoren sprechen nur hinter vorgehaltener Hand – keiner möchte namentlich genannt werden. Sie berichten von teilweise inhaltlich falschen, mit Textbausteinen versehenen Anlegerschreiben.
Wie arbeiten die vom VOTUM kritisierten Anlegerschutzanwälte? Zwei Urteile des BGH vom 5. Februar 2013 zur Herausgabe der Anlegeradressen erleichtern die Mandantengewinnung ungewollt. Das Urteil mit dem Az. II ZR 134/11 besagt, dass alle Beteiligten in Publikumsgesellschaften ihre Identität offenlegen müssen. Und dem Urteil Az. II ZR 136/11 zufolge können Anleger, die sich als Treugeber über einen Treuhandgesellschafter an einem geschlossenen Fonds beteiligt haben, Auskunft über Namen und Anschriften der übrigen an der Gesellschaft beteiligten Anleger verlangen.
Der Geschäftsführer eines Emissionshauses berichtet von seinen Erfahrungen und möchte dabei anonym bleiben: „Wir erleben Anlegerschutzanwälte, die nur einen unzufriedenen Anleger brauchen, und über ihn erhalten sie die Adressen aller anderen Anleger. Sie begründen dies vor dem Anleger damit, eine Interessengemeinschaft bilden zu wollen, doch das ist ein vordergründiges Argument. Letztlich geht es um Mandantenfang. Bekommt die Kanzlei eine Vollmacht des Anlegers für einen Fonds, kann sie zu dessen Geschäftsführung oder zum Treuhänder gehen, und die Adressen der anderen Anleger verlangen – ihr Mandant wolle diese kennenlernen. Oftmals fragt so eine Kanzlei den Anleger auch, in welche Fonds er darüber hinaus investiert hat, und kontaktiert auch deren Anleger. Das ist ein perpetuum Mobile, mit dem einige Kanzleien riesige Adressbestände aufgebaut haben. So kann es passieren, dass ein Anleger in einem Fonds Post von mehreren Anwälten bekommt.“
Schulz-Jodexnis hört vor allem von zwei „interessanten Wegen bestimmter Kanzleien mit dem Geschäftsmodell Anlegerschutz“, Mandanten zu gewinnen: „Erstens werden Schutzgemeinschaften für Anleger gegründet, die Adressen anderer Anleger und der dazugehörigen Vertriebspartner einsammeln. Letztere wiederum werden dann verklagt. Zweitens kommt es vor, dass Anwaltskanzleien sich am Zweitmarkt einen Fondsanteil kaufen und auf diesem Wege die Adressen der Mitgesellschafter bekommen.“
Schiffsfonds seien das beliebteste Feld, wen wundert es angesichts der Marktverwerfung und der daraus resultierenden Schieflagen und Fondsinsolvenzen. Schulz-Jodexnis: „In jedem zweiten uns vorgelegten Schreiben der nicht auf Kapitalanlagerecht spezialisierten Anlegerschutzanwälte, das an den freien Vertrieb geht, wird mit dem BGH-Urteil zu den Kick-backs bei Banken argumentiert, welches im freien Vertrieb nicht greift. Es werden oft Standardtexte verwendet, ohne Bezug zur individuellen Beratungssituation des Kunden. Anlegern wird versprochen, sie bekommen 100 Prozent des Geldes zuzüglich Zinsen zurück. Die auch von vielen Anwaltskollegen kritisierten Anlegerschutzanwälte suggerieren den Anlegern, es liefe doch bestimmt etwas schief bei ihren Fonds, und sie könnten ihnen das Geld zurückholen.“

80 Prozent der Vertriebe wurden bereits verklagt. JDC lässt die Vermittler bei Klagen nicht allein und begleitet zum Beispiel mit Unterlagen aus der Produktprüfung, da der Pool eine Masterliste mit Enthaftung bietet. „Von 250 Vertriebspartnern auf unserer Frühjahrs-Roadshow hatten 80 Prozent schon mal eine Anlegerschutz-Klage am Hals. Von diesen 80 Prozent wurde nach eigenen Aussagen der Vertriebspartner keiner erfolgreich verurteilt. Bei circa fünf Prozent dieser Fälle wurde ein Vergleich geschlossen, initiiert durch die Vermögensschadenhaftpflichtversicherung des Vertriebspartners“, sagt Schulz-Jodexnis. Die Erfahrung der Betroffenen zeige, dass es bei einem Anschreiben eine gute Taktik sei, abzuwarten und sich fachliche Hilfe zu holen. So folge in vielen Fällen, in denen ein Vermittler angeschrieben wurde und zunächst nicht auf ein Anwaltsschreiben reagierte, keine Klage.

Und wie sieht es vor Gericht aus? Rechtsanwalt und VOTUM-Geschäftsführer Klein: „Im laufenden Jahr hatten wir Fälle vor Gericht, bei denen es dem Anwalt ganz offensichtlich mehr auf seinen Verdienst als auf das Ergebnis ankam. Es wurden sogar Vergleiche in Fällen geschlossen, in denen der Kläger einen berechtigten Anspruch hatte, aber sein Anwalt hat früh eingelenkt. Nur der Vergleich zählte offenbar. Für einen Anlegerschutzanwalt lohnt sich ein Vergleich noch mehr als ein Urteil, weil die Rechtsschutzversicherung des Klägers ihm eine zusätzliche Vergleichsgebühr zahlt.“
Ein Beispiel aus Kleins Kanzlei: Ein Zahnarzt aus den neuen Bundesländern, der keine eigene Altersvorsorge aus dem Ärzteversorgungswerk besaß, hat mit Anfang 50 mehr als zwei Drittel seines Vermögens in Form von Schiffsbeteiligungen angelegt – auf Empfehlung seines Beraters hin. Im Alter von 58 Jahren verklagte der Arzt seinen Berater auf Falschberatung – der Streitwert lag über 250.000 Euro. Klein: „Der Zahnarzt hatte die Fonds immer Mittwochnachmittag gezeichnet, sobald seine Praxis geschlossen war, offenbar gleich nach der Beratung. Es war also zu erkennen, dass er die Prospekte gar nicht gelesen hatte.“ Das Verfahren endete mit einem Vergleich: Zehn Prozent der Schadenssumme hat die Vermögensschadenhaftpflichtversicherung des von Klein vertretenen Beraters dem Anleger gezahlt, und auf 90 Prozent des Schadens blieb der Zahnarzt sitzen. Klein: „Wenn der Anlegerschutzanwalt sich in den Fall richtig eingearbeitet hätte, wäre deutlich mehr drin gewesen für seinen Mandanten.“ Klein geht davon aus, dass die Klagewelle der Anlegerschutzanwälte anhalten wird: „Die Rechtsschutzversicherer der Kläger sind dazu verpflichtet, diese Klagen zu finanzieren. Als Konsequenz werden wir wohl eines Tages Prämienerhöhungen bei den Rechtsschutzversicherern erleben.“

Nicht mehr versicherbar. Die ARAG plant nicht, die Prämien in der privaten Rechtsschutzversicherung aus diesem Grund zu erhöhen. Generalbevollmächtigter Heiermann: „Wenn entsprechende Risiken in nennenswertem Umfang steigen, erhöht das die natürlich den Schadenaufwand der Rechtsschutzversicherer. Diese Kosten legen wir aber nicht auf die Kunden um. Vielmehr versichern wir das Risiko nicht mehr.“ Das Unternehmen hatte bereits 2002 reagiert, indem es die Anlegerschutzklagen weitgehend als Risiko aus der privaten Rechtsschutzversicherung ausschloss. Heiermann: „Ab 2008 wurde dieser Risikoausschluss wieder etwas gelockert, um bei bestimmten Arten von Kapitalanlagen Rechtsschutz anbieten zu können.“