Zahlen Mieter ihre Mieten nicht mehr oder nur noch zum Teil, dann leiden nicht nur die Eigentümer. Ertragsstörungen gehen auch in die Ermittlung der Verkehrswerte von Immobilien ein. Offene Immobilienfonds sind verpflichtet, eine quartalsweise Bewertung ihres Portfolios vornehmen zu lassen. Dadurch kommt dem Gutachter eine entscheidende Funktion im Hinblick auf die Entwicklung der Fondsperformance zu – und eine große Verantwortung. Über die Herausforderung der Gutachter, in unsicheren Zeiten trotzdem zu angemessenen Bewertungen zu kommen, sprach FONDS professionell ONLINE mit Gernot Archner, dem Geschäftsführer des Bundesverbands der Immobilien-Investment-Sachverständigen (BIIS). Diesem Berufsverband haben sich derzeit 121 Gutachter angeschlossen, die jährlich Immobilien im Wert von mehr als 500 Milliarden Euro bewerten.


Herr Archner, wie unterscheiden Sie den Preis einer Immobilie von ihrem Wert?

Gernot Archner: Der Preis einer Immobilie ist ein jeweils konkreter Betrag, auf den sich Erwerber und Veräußerer einigen. Der kann heute so, morgen so und unter verschiedenen Akteuren wiederum ganz anders ausfallen. Der Wert hingegen, man nennt das auch den verobjektivierten Marktwert oder Verkehrswert, betrachtet einen durchschnittlichen Preis von vielen Marktteilnehmern zu einem bestimmten Zeitpunkt, bei dem man ungewöhnliche und persönliche Verhältnisse außen vorlässt. Entsprechend spielen zum Beispiel Zwangsverkäufe oder individuelle Finanzierungsmöglichkeiten für die Ermittlung des Verkehrswerts keine Rolle. Grundlage dafür ist, dass man sich vergleichbare Transaktionen akribisch anschaut und Ausreißer identifiziert und rausrechnet.

Wie sehr ist das aktuelle Transaktionsaufkommen durch Corona beeinträchtigt?

Archner: Mitte März legte der Lockdown erstmal alles lahm. Aber nicht nur die Transaktionen, die vorher schon vertraglich fixiert waren, sondern auch neue Ankäufe und Vermietungen finden inzwischen wieder statt. Und entsprechend auch die Quartalsbewertungen von Portfolios offener Immobilienfonds. Da gibt es keinen Stillstand.

Was empfehlen Sie Immobiliengutachtern, wie sie mit coronabedingten Unsicherheiten am besten umgehen sollen?

Archner: Man muss vor allem aufpassen, dass man nicht auf eine fehlerhafte Doppelberücksichtigung verfällt. Wenn man also wegen nur temporärer Ertragsstörungen die angesetzten Roherträge für die gesamte Restnutzungsdauer eines Objekts herabsetzen würde und zusätzlich noch den Liegenschaftszinssatz als Rechengröße für die Verzinsung des marktüblichen Objektertrags um einige Basispunkte anhebt und dann noch zusätzlich einen Sonderabschlag für ausgefallene Mieten für über – sagen wir mal – drei Monate vornimmt, dann würde man eine nur temporäre Mietminderung an zwei weiteren Stellen für die gesamte Restdauer der Immobiliennutzung ansetzen. Das würde ohne aktuell hinreichende Marktevidenz aus dem Transaktions- und Vermietungsmarkt zu einer so drastischen Wertreduzierung führen, dass sie angesichts einer nur temporären Mietminderung nicht zu rechtfertigen wäre.

Steht da nicht das Stichtagsprinzip entgegen?

Archner: Das Stichtagsprinzip bedeutet nicht, dass man sich unwissender stellen darf, als man ist. Freilich müssen alle zum Stichtag bekannten Fakten Eingang in die Bewertung finden. Es bedeutet aber auch, dass man nicht spekulative Annahmen in die Zukunft fortschreibt, sondern von der Marktevidenz ausgeht, also tatsächliche Transaktionen und Mietabschlüsse in repräsentativer Anzahl zugrunde legt. Beim Brexit haben wir schon studieren können, wie ohne Berücksichtigung der Marktevidenz zum Teil brutale Abwertungen vorgenommen wurden, wo sich der Markt doch nach drei Monaten der Verunsicherung wieder komplett berappelt hat. Außerdem sind auch die Grundsätze von Bewertungskonsistenz und Bewertungskontinuität bei einem Vehikel wie einem Publikumsfonds mit täglichen Zu- und Abflüssen zu berücksichtigen.

Was ist mit Bewertungskonsistenz und Bewertungskontinuität gemeint?

Archner: Das erste heißt, dass Sie Ihr Set an Grunddaten und Annahmen nicht beliebig in einer Situation erhöhter Unsicherheit spontan verändern können, das zweite, dass Sie zum Beispiel für ein Langzeitprodukt wie den offenen Immobilienfonds mit zwei Jahren Mindesthaltedauer und einem Jahr Kündigungsfrist auch für die Bewertung einen ausreichend bemessenen Bezugszeitraum für die Feststellung aussagekräftiger Transaktionsdaten veranschlagen müssen. Entsprechend müssen Sie auch die Verhältnisse mit ins Kalkül einbeziehen, die sich nicht so schnell verändern. Das Zinsniveau wird sich zum Beispiel durch Corona nicht ändern, zumindest nicht nach oben. Dadurch bleiben Immobilienanlagen selbst bei einer etwas geringeren Ertragsrendite langfristig weiter attraktiv.

Ein Gutachter soll einerseits möglichst wenig Gutdünken walten lassen, andererseits zeichnet einen guten Gutachter ja gerade seine unabhängige Urteilskraft aus. Wie geht man mit diesem Dilemma um?

Archner: Ermessensspielräume bewegen sich nicht in fixen Bänderungen, sondern sind abhängig vom wechselhaften Marktgeschehen und dessen veränderlichen Bandbreiten. Gehen die Erwartungen von Käufern und Verkäufern auseinander, dann vergrößern sich zwangsläufig auch Ermessensspielräume. Wenn die Nachfrageseite sehr stark und die Angebotsseite sehr schwach ist, dann engen sich mit den "Spreads" natürlich auch Spielräume wieder ein. Der Ermessenspielraum ist immer bezogen auf das relevante Marktgeschehen, dessen Bandbreiten und die Verortung des Bewertungsobjektes in selbigen. Die Bandbreiten des Marktes geben sozusagen die Leitplanken für eine evidenzbasierte Bewertung vor. Diese sauber festzustellen und das Objekt in das festgestellte relevante Marktgeschehen einzuordnen ist die Aufgabe des Sachverständigen. Er kann nicht losgelöst von den tatsächlichen Objekt- und Marktverhältnissen begutachten. Schließlich beurteilt möglicherweise später einmal seine Arbeit ein von einem Gericht zur Überprüfung bestellter Sachverständiger.

Wem gegenüber muss sich ein Gutachter eigentlich rechtfertigen?

Archner: Zunächst ist ein Gutachter frei in der Ausübung seines sachverständigen Ermessens. Dies muss auch so sein, da es anderenfalls a priori keines Sachverständigen bedürfte. Jedoch müssen alle Daten, die er zugrunde legt, korrekt sein und deren Bewertung – das ist der Bereich, bei dem subjektives Ermessen zum Tragen kommt – muss für Dritte nachvollziehbar sein. Das sind in der Fondspraxis das Risikomanagement der Kapitalverwaltungsgesellschaft, die Verwahrstelle und der Abschlussprüfer. Alle diese Einheiten prüfen den internen und externen Bewertungsprozess und auch den Inhalt der Wertgutachten auf Belastbarkeit und Nachvollziehbarkeit. Über dem Sachverständigen thront nicht allein der blaue Himmel, auch wenn er einen großen Ermessensspielraum hat. Und eines dürfen Sie nicht vergessen: Ein Gutachter haftet unbeschränkt. Ist er zudem wie häufig als natürliche Person und nicht als juristische Person bestellt worden, und es sind Fehler in seinem Gutachten, dann haftet er mit seinem gesamten Privatvermögen. Auch Versicherungen decken dieses Risiko nur zu einem geringen Teil ab. Ermessensspielraum und Haftung gehen Hand in Hand. So ein Risiko tragen nur sehr wenige Berufsgruppen.

Vielen Dank für das Gespräch. (tw)


Was die Corona-Krise für verschiedene Immobilieninvestments bedeutet, lesen Sie in Ausgabe 2/2020 von FONDS professionell, die den Abonnenten in wenigen Tagen zugestellt wird.