Die Wende in der Geldpolitik, die die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrer Anhebung der Zinsen im Juli vollführte, betrifft insbesondere auch die Lebensversicherer. Ihre Hauptanlageklasse sind schließlich festverzinsliche Wertpapiere. Grundsätzlich ist der Zinsanstieg für die Gesellschaften und ihre Kunden gut, allerdings werden einige Versicherer auch mit Problemen kämpfen müssen. Das prognostiziert Herbert Schneidemann, Chef der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV), in einem Gespräch mit dem "Handelsblatt". Mit anderen Worten: Die Schere zwischen finanziell starken und schwachen Lebensversicherern könnte weiter auseinandergehen.

"Höhere Zinsen sind eine gute Botschaft für die Lebensversicherung, vor allem für die Wiederanlage", betont Schneidemann, der auch Chef der Versicherungsgruppe die Bayerische ist, gegenüber der Zeitung. Kaufen die Versicherer jetzt neue Anleihen, holen sie sich damit höhere Renditen ins Depot. Anbieter, die hauptsächlich Versicherungen mit kurzen Restlaufzeiten im Bestand und zugleich wenig Geld in festverzinsliche Wertpapiere investiert haben, stehen daher nach Einschätzung des DAV-Chefs gut da.

Stille Lasten in den Bilanzen 
Allerdings gebe es auch einen umgekehrten Effekt. "Die bestehenden Kapitalanlagen geraten zunächst unter Druck, da die meisten Versicherer stark in festverzinslichen Wertpapieren investiert sind", erläutert er. Wegen der gestiegenen Zinsen sei der Marktwert der bereits im Depot liegenden Anleihen aus der langen Phase der Niedrigzinsen gesunken. Wenn der aktuelle Marktwert der Kapitalanlagen geringer ausfällt als die Buchwerte in der Bilanz, entstehen bei den Versicherern sogenannte stille Lasten – diese Gesellschaften werden es schwer haben, sagt Schneidemann.

Positiv seien die steigenden Zinsen auch im Hinblick auf die Solvenzquoten, die das Verhältnis von vorhandenen zu geforderten Eigenmitteln angeben; die Versicherer müssen hier eine Quote von mindestens 100 Prozent vorweisen, um im Notfall die Forderungen der Kunden erfüllen zu können. In der Vergangenheit schafften zahlreiche Anbieter dies nur mithilfe von Sonderregeln, die 2032 auslaufen werden. "Ich gehe davon aus, dass aktuell kein Lebensversicherer noch eine Quote von unter 100 Prozent aufweist – selbst ohne Übergangsmaßnahmen", meint Schneidemann.

Ungelöstes Problem: Inflation
Ein Problem lösen die steigenden Zinsen allerdings nicht – die hohe Inflation, so der DAV-Chef gegenüber dem "Handelsblatt". Die Inflationsrate lag zuletzt bei 7,5 Prozent, Lebensversicherungen erwirtschaften im Schnitt eine laufende Verzinsung von 2,02 Prozent. Für Schneidemann ist das vor allem eine kommunikative Herausforderung. Die Versicherer müssten den Kunden nun erklären, dass sie "trotz oder gerade wegen der negativen Realverzinsung noch mehr für die Altersvorsorge sparen müssen". (jb)