Zhong An kennt in Europa kaum jemand. Dabei ist der chinesische Online-Versicherer am Heimmarkt eine große Nummer. Seit 2013 hat das Unternehmen aus Shanghai mehr als 450 Millionen Kunden gewonnen. 2016 habe der Low-Cost-Anbieter Geschichte geschrieben und an einem einzigen Tag im November 210 Millionen Policen verkauft – mehr als mancher Traditionsversicherer in einem Jahrzehnt, sagt Dietmar Kottmann, Insurance-Partner bei der Managementberatung Oliver Wyman. "Es ist eine reine Frage der Zeit, bis Unternehmen wie Zhong An die europäischen Märkte bearbeiten", so Kottmann.

Er ist Co-Autor einer globalen Insurtech-Studie, die die internationalen Digitalstrategien in der Versicherungswirtschaft beleuchtet. Hinter Zhong An stünden mächtige Investoren wie Ping An, Alibaba oder Tencent: "Das Rennen um den weltweiten Versicherungsmarkt scheint eröffnet".

Angebot und Vertrieb ditgital übersättigt
Dennoch hätten in Europa die Versicherungsstartups (Insurtechs) noch kaum eine disruptive Wirkung. In vielen Aspekten sei die Szene schlecht aufgestellt: Die Bereiche Angebot und Vertrieb seien zum Beispiel mit Insurtechs überbesetzt. "In der heutigen ersten Welle traten auch Start-ups an, die kaum über Branchenwissen verfügten", sagt Kottmann. Einige Investoren irrten außerdem mit der Annahme, es ließen sich ähnlich wie im Onlinehandel einfach Nachfrageströme unterbrechen und umleiten. "Dieser Ansatz läuft im Versicherungsgeschäft meist ins Leere", sagt Kottmann. Die Versicherungskunden suchen nämlich selten aktiv nach einer Absicherung. "Es gilt vielmehr, das latente Kundenbedürfnis an die Oberfläche zu holen. Doch diese Kunst beherrschen erst wenige."

Die europäischen Insurtechs seien beim Angebot von situativen und Community-basierten Produkten stark. Beide Felder seien aber nicht sonderlich gewinnträchtig. Das ebenfalls in Europa beliebte Modell der Preisvergleichswebseiten besitze zwar mittlere Attraktivität, sei jedoch mit Platzhirschen wie Check 24 schon besetzt.

Schadensabwicklung und Unterwriting kaum digitalisiert
Mehr herausholen könnten Start-ups, die den Betrieb an sich digitalisieren. "Dort finden sich viele attraktive Chancen", sagt Kottmann und verweist auf Technologien, die den Vertrieb unterstützen ("Digital Sales Enabling"), die Schadensabwickung erleichtern ("Claims Management") oder versicherungstechnische Kernprozesse optimieren ("Underwriting").

Zwei Drittel des weltweiten Prämienpotenzials liegt den Angaben zufolge in den USA und Westeuropa. Viele Insurtechs seien aber reine Länderspieler. Doch: "Der Versicherungsmarkt ist so groß, dass ein Insurtech auch in einer Nische zu einem Erfolg werden kann“, sagt Nikolai Dördrechter, Geschäftsführer von Policen Direkt und Co-Autor der Studie.

Policen Direkt ist auf dem Zweitmarkt für Lebensversicherungen tätig: Das Unternehmen kauft in Deutschland und Österreich ausstiegswilligen Besitzern ihre Kapitallebensversicherungen ab und verkauft sie an Investoren weiter.

Investoren zögern
Dördrechter glaubt, dass eine zweite Welle besser aufgestellter Insurtechs mit mehr Branchenwissen und intelligenteren Ansätzen in den Markt kommen wird. Wie sehr und wie schnell sie als ernste Konkurrenz zu den alteingesessenen Playern auftreten, werde von den Investoren abhängen.

Bisher zeige sich in Europa ein deutliches Ungleichgewicht zwischen investiertem Wagniskapital und vorhandenem Potenzial. Hinter dem chinesischen Erfolgsunternehmen Zhong An stehen hingegen 930 Millionen US-Dollar Investorengeld. (eml)