Reiner Will, 62, geschäftsführender Gesellschafter und Mitgründer der Ratingagentur Assekurata, beobachtet den Versicherungssektor seit mehr als 30 Jahren. Im Gespräch mit FONDS professionell ONLINE nimmt der promovierte Betriebswirt zu wichtigen Branchenentwicklungen Stellung.


Herr Will, bedeutet der Zinsanstieg die Renaissance der klassischen Lebensversicherung?

Reiner Will: Nein. Dies liegt vor allem an der Konstruktion der Garantien, deren Finanzierung einen Teil der fortlaufenden Erträge kostet. Der Zwang, jedes Jahr eine laufende Verzinsung zu erwirtschaften und diese den vertraglichen Deckungsrückstellungen gutzuschreiben, stellt eine erhebliche Einschränkung der Kapitalanlagemöglichkeiten dar. Aktuell führen die gestiegenen Zinsen zu erheblichen stillen Lasten bei Festverzinslichen. Daher sind Lebensversicherer grundsätzlich daran interessiert, die Garantien abzusenken oder in Richtung des Endes der Vertragslaufzeit zu verlagern.

Welchen Schwung erwartet Assekurata nun in den Produktschmieden der Anbieter?

Will: Einen leichten Aufschwung. Die Klassik-Anbieter können den Garantiezins nicht nach Belieben selbst bestimmen. Der sogenannte Höchstrechnungszins wird 2025 von derzeit 0,25 Prozent auf 1,0 Prozent steigen. Das ist die erste Anhebung seit 30 Jahren und schafft Freiräume in der Kalkulation, auch bei Riester-Policen, die nur noch von drei Gesellschaften im Neugeschäft geboten werden.

Bedeutet der Abbau der Zinszusatzreserve (ZZR) eine echte Entlastung?

Will: Durch die ZZR wurden die Garantieanforderungen der Bestände seit 2011 effektiv reduziert, sodass in ökonomischer Hinsicht "nur" noch ein Garantieniveau von durchschnittlich 1,35 Prozent erwirtschaftet werden muss. Der tarifliche Garantiezins der Bestände lag Ende 2023 im Branchenmittel bei 2,34 Prozent und damit deutlich über dem aktuellen Höchstrechnungszins für das Neugeschäft. Für die Tarife, für die eine ZZR zu bilden ist, ist der sogenannte Referenzzinssatz maßgeblich. Für 2023 verbleibt er auf dem aktuellen Niveau von 1,57 Prozent. Folglich muss für keine weitere Tarifgeneration eine ZZR gebildet werden. Im Gegenteil: Für 2023 ergaben sich Rückflüsse aus der ZZR in Höhe von vier Milliarden Euro.

Und was passiert, wenn die Zinsen wieder fallen? Aktuell rechnen die Marktteilnehmer damit, dass die Europäische Zentralbank im Juni beginnt, die Leitzinsen zu senken.

Will: Der ZZR-Bestand belief sich Ende 2023 branchenweit auf etwa 88 Milliarden Euro. Gegenüber dem Höchstwert von 96 Milliarden Euro 2021 baut sich die ZZR damit allmählich ab. Bei einem konstanten Marktzinsniveau rechnen wir für die kommenden beiden Bilanzjahre mit Rückflüssen von jeweils rund fünf Milliarden Euro, in den Jahren danach dynamisiert sich der Abbau auf jährliche Rückflüsse im zweistelligen Milliardenbereich. Sofern die Zinsen nicht wieder deutlich sinken, ist die ZZR branchenweit ausfinanziert. Die freiwerdenden Mittel kommen vollumfänglich den Kunden zugute, allerdings nicht zwingend unmittelbar in Form höherer Überschussbeteiligungen. Teilweise werden sie auch zunächst zum Abbau von stillen Lasten in den Kapitalanlagen genutzt, dadurch wird die Rendite mittelbar gestützt. Insgesamt hat die ZZR die Lebensversicherer sehr gut durch die Niedrigzinsphase gebracht. Ich sehe auch bei mittelfristig sinkenden Zinsen keinen weiteren Nachfinanzierungsbedarf.

Um mehr Verbreitung bei Betriebsrenten zu schaffen, wird seit längerem auch ein Opting-Out diskutiert. Was halten Sie davon?

Will: Die Diskussion ist ein wichtiger Schritt, um mehr Leute für die bAV zu begeistern. Opting-Out bei Betriebsrenten heißt, dass Arbeitnehmer automatisch in die bAV aufgenommen werden, es sei denn, sie widersprechen ausdrücklich. Dieses Konzept könnte helfen, den Zugang zur bAV zu erleichtern und die Zahl der Begünstigten zu erhöhen. Der Verwaltungsaufwand könnte sinken, da keine individuellen Anträge erforderlich sind. Durch die automatische Aufnahme werden Arbeitnehmer zudem angehalten, sich mit ihrer Altersvorsorge auseinanderzusetzen. Allerdings kann ein automatisches System dazu führen, dass Arbeitnehmer sich nicht ausreichend mit den Details befassen und womöglich nicht ausreichend hoch vorsorgen. Opting-Out bietet damit keine Gewähr für eine optimale Versorgung, die auf die individuellen Präferenzen der jeweiligen Arbeitnehmer ausgerichtet ist. Genau darin besteht ja die Kernkompetenz von bAV-Maklern. Obwohl das Opting-Out Vorteile bietet, hängt der Nutzen davon ab, was die einzelnen Mitarbeiter bevorzugen, wie gut informiert sie sind und wie das System gestaltet ist.

Über Nachhaltigkeit wird viel geredet. Wo stehen die Lebensversicherer da aktuell?

Will: Sie sind besonders durch Informationspflichten vom Thema Nachhaltigkeit betroffen. Nach der Offenlegungsverordnung müssen sie sowohl über das Sicherungsvermögen als auch über die angebotenen externen Fonds ESG-Angaben bereitstellen. Dies erfordert entsprechende Daten sowie den Aufbau und die Pflege eines umfangreichen Datenmanagements. Offengelegt werden müssen auch quantitative Informationen zu den wichtigsten nachteiligen Auswirkungen von Investitionsentscheidungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren, den sogenannten Principle Adverse Impact Indicators, kurz PAIs. Bei Untersuchungen zu den entsprechenden Veröffentlichungen auf den Internetseiten der Lebensversicherer haben wir festgestellt, dass die Vergleichbarkeit der Indikatoren nur sehr eingeschränkt möglich ist. Vermittler sind aber über die Regelungen der EU-Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD angehalten, Nachhaltigkeitspräferenzen ihrer Kunden bei Anlageentscheidungen abzufragen. Die PAIs knüpfen unmittelbar an die Transparenzpflichten der Offenlegungsverordnung und die Präferenzabfrage nach IDD an.

Wie können Vermittler diese Informationslücken schließen? Und wollen deren Kunden überhaupt "grüne" Policen?

Will: Der Vertrieb muss in die Lage versetzt werden, die Indikatoren und deren Limitierungen richtig zu interpretieren und anzuwenden. Da gibt es Verbesserungsbedarf. Vermittler sind zum Teil noch zurückhaltend, was vor allem ihrer Sorge vor potenziellem Greenwashing geschuldet ist. Gut ein Drittel der Kunden hat großes Interesse an nachhaltigen Anlagen in der Lebensversicherung, vor allem die jüngere Kundschaft. Das Informationsbedürfnis wächst. Ich sehe hier eine gewisse Lücke zwischen Vermittlerleistungen und Kundenbedürfnissen. Gleichwohl ist es so, dass sich Lebensversicherungskunden besser zum Thema Nachhaltigkeit über ihre Vermittler informiert fühlen als in der Kranken- und Sachversicherung. Dies lässt sich über das breitere Angebot an nachhaltigen Produkten in der Lebensversicherung im Vergleich zu den anderen Sparten erklären.

Vielen Dank für das Gespräch. (dpo)


Ein ausführliches Interview mit Reiner Will lesen Sie in Ausgabe 2/2024 von FONDS professionell, die Ende Mai erscheint.